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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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saß auf dem Bett, blaue Flecken an Hals und Kiefer, ein Auge zugeschwollen. Ihre rechte Hand hatte sie auf ihre Brust gepresst, es sah aus, als fiele es ihr schwer zu atmen. In Lys Magen zog sich alles zusammen. Es war nicht das erste Mal, dass Tams Mann Ngoc sie so zugerichtet hatte. Aber das machte es für Ly nicht einfacher, seine Schwester so zu sehen.
    Gerne hätte er sie in den Arm genommen, aber er traute sich nicht. Allzu oft hatte sie aggressiv auf seine Versuche reagiert, sie zu trösten. Ly wusste nicht, warum das so war. Vielleicht hatte sie Angst, ihren Mann zu verraten, wenn sie sich darauf einließ.
    »Verlass Ngoc …«, sagte Thuy.
    »Er hat versprochen, das nie wieder zu tun«, antwortete Tam leise.
    »Er wird nie aufhören«, fuhr Ly dazwischen. Er kannte Ngoc, der nicht nur sein Schwager, sondern auch ein Polizeikollege war, seit der Schulzeit. Ngoc war schon als Kind ein Schläger gewesen.
    »Ich liebe ihn«, sagte Tam.
    »Das geht so nicht weiter«, sagte Thuy in bestimmendem Tonfall. »Ly, rede du mit Ngoc. Auf dich hört er.«
    »Nein«, sagte Tam mit tränenerstickter Stimme.
    Ly sah zwischen den beiden Frauen hin und her. Was sollte er tun, wenn Tam seine Hilfe ablehnte? Er hatte sie ihr schon oft angeboten. Erfolglos. Er deutete ein Kopfschütteln an.
    »Du bist so ignorant«, sagte Thuy.
    Das stimmt nicht, dachte Ly. Nicht in diesem Fall zumindest.Aber Tam musste endlich selbst etwas ändern. Er nahm ein Glas und die Weinflasche, kletterte die an der Wand befestigte Metallleiter hoch und zog sich durch die Dachluke auf das Flachdach.
    Die ausladenden Kronen der Bäume wuchsen mittlerweile bis über das Dach. Es war fast ein bisschen wie im Wald hier oben. » Banh bao day, banh bao nong day …« , hallte es aus dem Megaphon des Dampfbrötchen-Verkäufers, der sein Rad durch die Gassen schob.
    Ly setzte sich auf die niedrige Mauer, die das Dach umrandete, und schenkte sich von dem Wein ein. Er fühlte sich elend und einsam. Er trank und rauchte und dachte über den Tag nach. Wie mussten diese Wanderarbeiter sich fühlen, weit weg von ihren Familien?
    Nach dem dritten Glas kletterte er hinunter in die Wohnung. Thuy und Tam waren weg, dafür war Duc jetzt da. Er lag dicht an die Wand gedrängt im Bett. Der Hamster rannte durch sein Rad, das leise knarrte. Diese Viecher konnten auch nicht mal zu vernünftigen Zeiten Ruhe geben, dachte Ly.
    »Papa?«, rief Duc.
    »Du schläfst noch nicht?«, fragte Ly.
    »Mama ist noch mal weg. Kommst du schlafen?«
    Ly strich seinem Sohn das lange Haar aus den Augen. »Ich warte, bis du eingeschlafen bist«, sagte er und legte sich neben ihn auf das breite Bett, froh, seinen kleinen warmen Körper an sich drücken zu können. Nach einer Weile atmete Duc gleichmäßig, und Ly stand leise auf. Er holte die Mappe, die Lan ihm über Na Cai zusammengestellt hatte, und setzte sich damit wieder auf das Dach. Es war jetzt bereits nach elf Uhr. Nur noch hin und wiederwar ein einzelnes Motorengeräusch eines vorbeifahrenden Fahrzeuges zu hören. Die Lichter der St.-Josephs-Kathedrale waren erloschen und die zwei Kirchtürme in der Dunkelheit nur noch schemenhaft zu erkennen. Ly zündete sich eine Kerze an und begann, die Unterlagen durchzugehen.
    Der Grenzchef, Nguyen Duy Cao, 52 Jahre alt, geboren in Moc Chau, war viele Jahre bei der Armee gewesen, ohne allerdings groß Karriere gemacht zu haben. Während seiner Militärzeit war es gewesen, dass sich auf einer Patrouille in den Wäldern von Son La der Unfall mit dem Bären ereignet hatte. Fast ein Jahr hatte er in einem Armeekrankenhaus verbracht. In dieser Zeit hatte seine Frau ihn verlassen und war nach China gegangen. Den Sohn, Bang, hatte sie bei den Eltern ihres Mannes zurückgelassen. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus war Nguyen Duy Cao nach Na Cai gezogen. Anfangs arbeitete er in der Dorfverwaltung, bevor er dann, sobald der neue Grenzposten eröffnet worden war, Grenzchef wurde.
    Die Baronin, Le Thi Phuong, stammte aus Na Cai. Sie war 62 Jahre alt. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie in Na Cai gelebt und war dann mit ihrer Familie nach Hanoi gezogen. Über diese Zeit hatte Lan nicht viele Informationen ausfindig machen können. Vermutlich waren sie bei Verwandten untergekommen, so wie es üblich war. Noch als Jugendliche meldete Le Thi Phuong sich freiwillig an die Front. Sie kämpfte hauptsächlich an der Grenze zu Südvietnam, wo schwerste Bombardements stattfanden, und wurde dafür mit dem

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