Der letzte Tiger
damit der Bär nicht, wie Lyes schon so oft in anderen Bars gesehen hatte, anfing, an der Luft vor sich hin zu gammeln.
Für den Bruchteil einer Sekunde verfinsterte sich der Gesichtsausdruck von Quynh. Ly dachte schon, er habe die falsche Frage gestellt, doch dann folgte er Quynhs Blick. Ein weiterer Gast war eingetreten. Eine Frau. Ihre offenen Haare waren lang und hoben ihr Gesicht hervor. Sie war blass und hübsch, wären nicht die Lippen so grell geschminkt gewesen. Sie maß Ly mit einem flüchtigen Blick, stellte sich ans andere Ende des Tresens und holte Zigaretten aus ihrer abgegriffenen grünen Handtasche.
»Wer ist das?«, fragte Ly. Eine Frau ohne Begleitung erschien ihm hier etwas fehl am Platz. Doch Quynh ignorierte seine Frage und sagte: »Die Regierung hat die Kontrollen verstärkt. Und diese überengagierten jungen Tierschützer schnüffeln auch ab und an hier herum.« Quynh hatte seine Stimme gesenkt, wobei seine Augen immer noch auf dieser Frau ruhten.
»Das heißt, keine Wildtiere mehr?«, fragte Ly.
»Bitte, Ly«, sagte Quynh. »Ich bin eben nur etwas … hm … nennen wir es umsichtiger geworden. Im Hof halte ich höchstens noch ein paar Echsen oder mal ein Stachelschwein. Aber auf Bestellung kann ich alles besorgen. Mit ein paar Tagen Vorlauf.«
»Sogar Tiger?«
Quynh sah Ly mit gekräuselter Stirn an. Ly spürte, wie sich plötzlich eine gewisse Distanz zwischen ihnen aufbaute. »Die bestellen doch nur Chinesen«, sagte Quynh und lachte etwas gezwungen. »Außerdem, Ly, alter Freund, du bist doch nicht etwa in die Liga aufgestiegen, dass du dir Tiger leisten kannst?«
»Und die da, die haben das Geld, was?« Ly deutete mit dem Kinn zu den Männern an dem langen Tisch.
»Die stehen ja auch einige Ränge über dir, Herr Kommissar. Und über mir sowieso«, sagte Quynh in einem versöhnlichen Tonfall. »Es gibt immer mehr Leute mit viel Geld. Ich kann das selbst manchmal kaum glauben. Mit rechten Dingen geht das sicher nicht zu. Aber es ist gut für mein Geschäft.«
»Und diese Umweltpolizei? Die weiß nichts von deinen Geschäften?«
»Ach, die tauchen ab und an mal zu einer kleinen Razzia auf, deshalb habe ich ja auch nie viele Tiere hier. Aber die kommen nie zu den Öffnungszeiten«, sagte Quynh und schaute zum Tisch mit den Männern hinüber. »Ich habe einflussreiche Stammkunden. Sieh sie dir doch an. Die sorgen schon dafür, dass sie beim Essen nicht belästigt werden.«
*
Es war bereits später Nachmittag, als Ly durch eines der Fluttore nach Phuc Tan hineinfuhr. Dieser Stadtteil lag hinter der Deichmauer am Ufer des Roten Flusses. Es wunderte Ly nicht, dass der Unfallfahrer gerade dort gemeldet gewesen war. Mit ihren günstigen Mieten zog die Gegend viele Zugezogene vom Land an.
In den Bäumen und vor den Häusern brannten bunte Glühbirnen und Neonleuchten. Die ersten Gäste saßen vor Garküchen und in den billigen bia hois und aßen zu Abend. Die meisten von ihnen waren Wanderarbeiter, die in ihren Unterkünften keine eigenen Kochmöglichkeiten hatten. Ihre mit Plastikwaren beladenen Fahrräder unddie Karren mit den Presskohlezylindern standen am Straßenrand. Die Bauchläden mit Zeitungen, Haarspangen und Sonnenbrillen hatten sie auf dem Boden neben sich abgestellt.
Ly fuhr bis zum Fluss hinunter und bog hinter dem Son-Hai-Tempel ein. Die Hahnenkampf-Arena lag verwaist da: ein Ring aus Blechen aufgebogener Ölfässer, hart gestampfter Lehmboden, eine Tribüne aus durchgescheuerten Sesseln, Holzstühlen und Baumstümpfen.
Das Haus, in dem Nguyen Van Nam gewohnt haben sollte, lag etwas zurückversetzt an einem kleinen Platz. Auf den Stufen vor der offenstehenden Haustür saß ein Junge in kurzer Hose, seine Knie waren dick verschorft. Über ihm an der Tür hing ein handgeschriebenes Pappschild. »Nudeln mit Schwein – zehntausend Dong.« Das war günstig. Zu günstig, dachte Ly. Wer weiß, vielleicht war das Schwein nur eine Ratte gewesen. Gerüchte dieser Art gab es viele.
Ly warf seine Zigarette weg, die er sich während der Fahrt angesteckt hatte, und trat in das dunkle fensterlose Treppenhaus. Es roch nach salziger Fleischbrühe. Schritt für Schritt tastete er sich die Treppe hinauf. Obwohl es draußen noch warm war, fröstelte Ly. Die Luft war klamm. Im ersten Stock stand eine Tür weit offen. Auf einem Bett lag eine Frau, klein wie ein Kind und sehr alt. In ihrem Mundwinkel hing ein feuchter Zigarettenstummel, ihre Lippen waren vom Betelkauen rot schwarz
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