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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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nichts dergleichen. Stattdessen sagte er: »Sie übernehmen den Tigerfall.«
    Ly sah seinen Chef entgeistert an. »Ich?«
    »Sie, Genosse.«
    »Es gibt neue Erkenntnisse zum Tod von Le Ngoc Truong. Kann nicht die Umweltpolizei …«
    »Genosse«, unterbrach Parteikommissar Hung ihn. Seine Stimme bebte. »Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Dieser Tigerfall hat höchste Priorität.« Der Parteikommissar gab ein schmatzendes Geräusch von sich, sein Gebiss klackerte in seinem Mund. Er drückte es mit der Zunge fest und erklärte dann, dass die Regierung auf einer Konferenz in St. Petersburg die Sicherheit der Tiger zugesagt hatte. Ein lebender Tiger, der in einem Wagen mitten in Hanoi auftauchte, wecke da Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Regierung. Schon jetzt mokiere sich die internationale Presse über diesen Fall.
    Kein Wunder, dachte Ly, die Geschichte war ja auch zu absurd. Ein lebender Tiger in einem Wagen mitten in der Hauptstadt.
    »Ich brauche Ergebnisse. Und kein Aufsehen«, sagte der Parteikommissar. »Es geht hier um das Ansehen des ganzen Landes.«
    Ly wusste nur zu gut, dass genau dieses Ansehen das Einzige war, was für seinen Chef wirklich zählte. Er fluchte innerlich und wagte noch einen Versuch: »Könnte sich denn zumindest meine Assistentin um den Fall Le Ngoc Truong kümmern?«
    Der Parteikommissar schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wenn Sie diesen Tigerfall aufgeklärt haben, können Sie machen, was Sie wollen. Aber bis dahin arbeiten Sie daran, Sie beide.«
    »Die Leute von der Umweltschutzpolizei«, sagte Ly noch, »die werden nicht glücklich sein, wenn ich mich da einmische.« Aber eigentlich war ihm klar, dass die Umweltpolizei längst aus dem Fall heraus war. Tu hatte ja eben nicht einmal seinen Gruß erwidert.
    »Auf diesen wichtigen Fall setze ich doch nicht diese Grünschnäbel an«, sagte der Parteikommissar. »Die haben doch gar keine Erfahrung.«
    *
    Ly brauchte frische Luft. Er schob seine Vespa aus dem Hof des Präsidiums. Ausnahmsweise sprang sie beim ersten Startversuch an.
    Er fuhr die Tran-Hung-Dao hinunter bis zum Bahnhof, bog in die Le-Duan ein, gab Gas und fuhr einfach drauflos, ohne Ziel. So schnell es ging, lenkte er zwischen den anderen im Schritttempo mehr stehenden als fahrenden Motorrädern und Autos hindurch. Einmal schlug seine Hand dabei hart gegen den Außenspiegel eines Jeeps. Aber das war ihm gerade egal. Der Fahrtwind beruhigte ihn, und er gewöhnte sich langsam an den Gedanken, in Truongs Tod auf eigene Faust zu ermitteln. Und den Tigerfall, den würde er irgendwie durchstehen. Und wenn er ihn nicht löste, war ihm das auch ziemlich egal.
    Als er zurück ins Präsidium kam, saß Lan an ihrem Schreibtisch und aß einen che hoa sen , einen Pudding aus Lotuskernen. Die nackten Füße hatte sie auf dem Gästestuhl abgelegt. Ihr kurzer Rock ließ freien Blick auf ihre langen schlanken Beine. Sie machte keine Anstalten, die Füße herunterzunehmen, als Ly eintrat, griff aber nach einer Mappe auf der Ablage hinter sich und hielt sie Ly hin. »Alles, was ich über Na Cai, diese Baronin und den Grenzer finden konnte«, sagte sie.
    Ly nahm die Akte. Sie war mindestens fünfzig Seiten dick, vermutlich hatte Lan sämtliche Behördenregistereinträge ausgedruckt. Das würde er später durcharbeiten. Jetzt musste er ihr erst einmal die schlechte Neuigkeit überbringen und sagte so beiläufig wie möglich: »Der Chef hat uns den Tigerfall übertragen.«
    Unvermittelt riss Lan die Füße vom Stuhl. »Das meinst du nicht ernst.«
    »Doch.«
    »Und wieso bist du da noch so ruhig?«
    »Ich bin nicht ruhig, das sieht nur so aus.«
    Lan hatte jetzt das Glas mit dem Pudding abgestellt. »Und wieso? Es werden täglich irgendwelche Tiere konfisziert. Seit wann interessiert das den Parteikommissar?«
    »Der Tiger hat zu viel Aufsehen erregt. Vor allem international«, sagte Ly und reichte Lan die Ermittlungsakte, die Parteikommissar Hung ihm gegeben hatte.
    Mit einem Seufzen überflog Lan den dünnen Papierstapel, der aus vielen Standardformularen bestand und einem kurzen, nahezu nichtssagenden Zwischenbericht. »Viel haben die ja wirklich nicht herausgefunden«, sagte sie mit einem ungläubigen Kopfschütteln.
    Der Unfallfahrer hieß Nguyen Van Nam und stammte aus einem kleinen Ort in Mittelvietnam. Seit drei Jahren hatte er in Hanoi gelebt. Zumindest war er seit diesem Zeitpunkt bei der Polizei im Stadtteil Phuc Tan gemeldet gewesen. Der Nissan, mit dem er verunglückt war,

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