Der letzte Tiger
verfärbt. Sie lag still da und starrte an die Decke, als sei sie alleine. Dabei saß um sie herum auf niedrigen Hockern gut ein Dutzend Männer und Frauen. Auf ihren Knien balancierten sie Suppenschalen und aßen schlürfend. Sie beachtetenLy nicht weiter, er war in ihren Augen wohl nur ein weiterer Hungriger.
Er drängte sich zu der Gastwirtin durch, einer dicken Frau mit wulstigem Doppelkinn, die breitbeinig hinter einem dampfenden Topf saß und eine Schale mit Nudeln, Fleisch und Brühe zubereitete. Ohne zu fragen, reichte sie Ly die Schale. Angewidert schaute Ly auf das zur Unkenntlichkeit kleingehackte Fleisch auf den Nudeln.
»Ich bin Kommissar Pham Van Ly«, sagte er. »Ich bin wegen Nguyen Van Nam hier. Er hat hier gewohnt?«
»Oben. Da vermiete ich.« Gleichgültigkeit lag in ihrer Stimme.
»Sie wissen, dass er tot ist?«
»Er schuldet mir noch zwanzig Tagesmieten. Hatte wieder sein ganzes Geld verzockt.«
»Er hat gespielt?«
»Immer«, sagte sie. »Wer zahlt jetzt die Miete?«
Ly ignorierte ihre Frage. »Für wen hat Nguyen Van Nam gearbeitet?«
»Keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht.« Sie fixierte Ly mit kleinen zusammengekniffenen Augen. »Oder meinen Sie, die zahlen noch seine Miete?«
Oben im Treppenhaus standen mehrere Männer und rauchten. Die Tür zu dem Zimmer hinter ihnen stand weit offen. Eine Glühbirne unter der Decke erhellte den kleinen Raum. Schlafmatten lagen eng an eng auf dem Boden. Zwei Frauen saßen dort und flochten konische Hüte in Puppengröße, wie sie überall an Touristen verkauft wurden. Neben ihnen auf dem Boden lag ein Baby und schlief. Ly sah zwei weiß-rot-blau gestreifte chinesischePlastiktaschen, die in einer Ecke standen, und Plastiktüten, die an Nägeln an der Wand hingen. Fenster sah er nicht, nur mehrere schmale Luftluken unterhalb des Bambusdaches. Ly wusste, wie die Leute vom Land hausten, wenn sie in die Stadt kamen, um Geld zu verdienen und sich ihren Anteil am neuen Wohlstand zu ergattern. Trotzdem, es entsetzte ihn immer wieder.
Er stellte sich den Männern im Treppenhaus vor und beeilte sich zu sagen, dass er nicht wegen irgendwelcher Meldepapiere gekommen sei. Es gehe ihm lediglich um Nguyen Van Nam.
»Er war Fahrer«, sagte Ly. »Für wen?«
Die Männer sahen ihn misstrauisch an, aber immerhin antwortete einer von ihnen: »Das hat er nie gesagt. Wir kannten ihn nicht gut. Er war oft weg.«
»Ich würde gerne seine Sachen sehen.«
»Die Vermieterin. Sie hat alles mitgenommen. Seine Tasche, sein Geld, sogar die Schlafmatte.«
Die Vermieterin schien alles andere als erfreut, dass ihre Untermieter Ly von Nams Sachen erzählt hatten. Sie stemmte sich aber aus ihrem Stuhl hoch und schlurfte zu dem Bett, auf dem die alte Frau lag. Die Gäste, die in ihrem Weg saßen, rückten wortlos beiseite.
Die Frau kniete sich hin und zog eine blaue Sporttasche unter dem Bett hervor, die sie Ly vor die Füße schob.
»Und die Matte«, sagte Ly.
»Wofür brauchen Sie die denn?«
»Die Matte«, wiederholte Ly.
Die Frau schimpfte vor sich hin, während sie auch die Matte unter dem Bett hervorzog.
Ly nahm die Sachen an sich und verließ das Haus. Die Matte legte er auf die Eingangsstufen eines der Nachbarhäuser. Die brauchte er nun wirklich nicht.
*
In Nams Tasche steckte neben einigen wenigen Kleidungsstücken ein Adressbuch. Die meisten Adressen darin waren aus Nams Heimatort. Außerdem fand Ly den Namen eines Massagesalons, Mua Xuan, an der Ausfallstraße Nummer 3 Richtung Flughafen. Lan sollte das überprüfen, aber die Massageläden da draußen waren in der Regel billige Puffs. Die einzige innerstädtische Adresse, die Nam notiert hatte, war 56, Phung Hung. Luftlinie waren das kaum fünfhundert Meter vom Literaturtempel entfernt.
*
Der Besuch in Phuc Tan hatte Ly niedergeschlagen. Er freute sich jetzt auf einen Abend mit Thuy. Nach der letzten Nacht hatte er dieses Kribbeln im Magen, das er so lange nicht mehr gespürt hatte. An einem Straßenstand vor dem Hom-Markt kaufte er Bananenblüten-Salat mit Krabben und dicke Scheiben Schweinebraten. Den Salat machte die Händlerin vor seinen Augen frisch an. Das Fleisch war noch warm und glänzte saftig. Im Laden beim alten Dung nahm er eine Flasche chinesischen Taiyuan -Chardonnay mit.
Als er die Stufen zu seiner Wohnung hinaufkam, ahnte er allerdings, dass es kein gemütlicher Abend werden würde.
»Du musst das nicht mitmachen. Geh endlich«, hörte er Thuy sagen.
Tam, Lys jüngere Schwester,
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