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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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einen hölzernen Vogelbauer an die Stromkabel, die hier wie überall in dicken Bündeln zwischen den Häusern hingen.
    »Wenn Sie den Arzt suchen«, sagte der Alte und wies die Straße hinunter, »der ist frühstücken.«
    Ly fand Doktor Song an einer der mobilen Garküchen am Ende der Lan-Ong-Gasse, vor sich eine große Schüssel bun thang .
    »Kommissar. Schon gegessen?«, fragte Doktor Song.
    »Noch nicht.« Ly setzte sich zu ihm und hatte sofort auch eine Schüssel bun thang vor sich stehen. Das einzige Gericht, das es hier gab. Auf den breiten Reisnudeln lagen drei Tigerkrabben, frittierte Wontons und feingeschnittener Schweinebraten.
    Doktor Song deutete mit dem Kinn auf Lys Arm. »Was ist passiert?«
    »Kleiner Unfall, oben in Son La.« Ly schlürfte vorsichtig einen Löffel heißer Brühe. Sie schmeckte leicht süßlich, was er nicht besonders mochte, und er gab viel Chili und Knoblauchessig dazu.
    »Son La? Zu viel vom guten roten Reisschnaps?« Doktor Song schmunzelte.
    »Nicht mal das«, sagte Ly. Wieso spielten eigentlich alle bei seinem Unfall auf Alkohol an? So schlimm stand es doch auch noch nicht um ihn.
    Doktor Song strich mit den Fingern über den gelben Schal um Lys Arm, den Pao als Verband benutzt und den Ly immer noch nicht ausgetauscht hatte. »Wer hat das so schön verbunden?«, fragte Doktor Song mit ironischem Unterton.
    »Ein Hmong-Schamane«, sagte Ly und biss in einen mit Krebsfleisch gefüllten Wonton.
    Doktor Song lachte. »Sie und ein Schamane. Hat er auch Ihre Seelen zusammengerufen?«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Doktor Song lachte. »Kommissar, ich bin Arzt der traditionellen Heilkunde. Da weiß ich auch so einiges über die Methoden unserer nationalen Minderheiten.« Er erklärte, dass die Hmong glaubten, der Mensch habe viele Seelen. Manchmal gehe eine verloren, beispielsweise auf einer langen Reise. Oder Geister entführten die Seelen. Der Verlust einer Seele könne schlimme Krankheiten hervorrufen. Der Schamane sei dafür zuständig, die Seelen zurückzuholen. Manchmal müsse er auch die Geister mit Opfern bestechen, damit sie die Seelen in Ruhe ließen. »Na ja, zumindest irgendwie so in der Art«, sagte Doktor Song. »Auf jeden Fall verstehen sie was von Heilkräutern. Allerdings, Sie müssen den Arm auch schonen. Sonst hilft die beste Medizin nichts. Wie geht es eigentlich Ihrer Mutter? Ich hoffe, besser?«
    *
    Doktor Song hatte Ly zusätzlich zu Paos Paste noch eine Kräutermixtur mitgegeben, die er aufkochen und trinken sollte. Von Schmerztabletten hatte er abgeraten. Die würden ihn nur verführen, den Arm zu stark zu bewegen. Trotzdem kaufte Ly auf dem Weg ins Präsidium in einer der Apotheken für westliche Medizin eine Packung Paracetamol.
    *
    Auf der Treppe zum Büro des Parteikommissars kam ihm Tu von der Umweltpolizei entgegen. Wie neulich am Literaturtempel trug Tu wieder eine dieser tiefhängendenJeans, diesmal kombiniert mit einem breiten, silberbeschlagenen Gürtel und einem T-Shirt mit der australischen Flagge über der Brust. Ly grüßte ihn, erntete jedoch nur einen kühlen Blick. Ohne ein Wort ging Tu an ihm vorbei. Ly sah ihm irritiert hinterher.
    *
    Parteikommissar Hung pochte mit den Fingern laut auf den Tisch und sah erst von der Volkszeitung auf, als Ly schon vor ihm stand. »Genosse Ly, Sie hätten längst zurück sein sollen.«
    Ly deutete auf seinen Arm. »Ich hatte einen Unfall. Ich bin mit dem Motorroller gestürzt.«
    Der Parteikommissar gab ein unwirsches Murren von sich. »Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.«
    »Nein. Danke der Nachfrage«, sagte Ly. »Parteikommissar Hung, ich wollte mit Ihnen noch einmal über den Fall Le Ngoc Truong sprechen.«
    Doch sein Chef schien ihn gar nicht gehört zu haben. »Wo waren Sie noch?«, fragte er.
    »Oben in Son La«, sagte Ly etwas widerwillig. Indem er die Bergprovinz Son La erwähnte, wusste er, was kommen würde. Der Parteikommissar würde in Erinnerungen schwelgen an eine Zeit, als er, noch jung und kräftig, unter General Giap gedient hatte. Dien Bien Phu, der Schauplatz der letzten großen Schlacht gegen die Franzosen, lag auch dort oben in den Bergen nahe Laos. Der Parteikommissar war damals, vor über einem halben Jahrhundert, einer der vielen gewesen, die schwerstes Kriegsgerät dort hinauftransportiert hatten. Die Franzosen, die sich im Talkesselvon Dien Bien Phu sicher geglaubt hatten, waren dem Angriff hilflos ausgeliefert gewesen. Doch zu Lys Verwunderung erzählte der Parteikommissar diesmal

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