Der letzte Tiger
schmuggeln können. In Na Cai kontrolliert kein Mensch an der Grenze«, sagte Ly. Er dachte daran, wie Bang den Wagen einfach mit dem Argument »man kenne sich« durchgewinkt hatte.
Aber Tu schüttelte nur immer wieder den Kopf, wobei er seine Mundwinkel herunterzog.
»Wieso nicht?«, hakte Ly weiter nach. »Jeder weiß, in Son La gibt es ausgefeilte Schmugglerrouten für Drogen aus Laos. Die können sie doch genauso gut für die Tiere nutzen.«
»Nein, können sie nicht«, sagte Tu. »Von Cau Treo aus sind die Tiere rasch über die Schnellstraße Nummer 1 bei den Abnehmern in Hanoi. Die Straße ist gut ausgebaut. In Ihrem Son La da oben ist die Infrastruktur doch viel zu schlecht, und auf der anderen Seite der Grenze ist es noch schlimmer. Drogen zu transportieren ist was anderes als Tiere.«
Ly knetete mit den Fingern seine Schläfen. Das passte doch nicht. Wieso hatte er dann diese Jacky aus dem Haus in der Hang-Trong kommen sehen? Es musste einen Zusammenhang geben. Und wenn die Baronin früher in Drogenhandel verwickelt gewesen war, wäre es doch für eine schlaue Geschäftsfrau wie sie nur sinnig, auf Tierhandel umzusteigen. Tu hatte selbst gesagt, die Gewinne wären ähnlich hoch. Die Strafverfolgung beim Tierhandel sei dagegen – anders als beim Drogenhandel – nicht weiter beachtenswert.
»Warte«, sagte Ly und ging in sein Büro hinüber, um die Fotos der Tierkäfige, die er in Truongs Wohnung gefunden hatte, zu holen. Er zog eine Schreibtischschublade nach der anderen heraus und durchwühlte sie.
»Lan«, rief er durch den Flur. »Hast du die Fotos von Truong gesehen?«
»Auf deinem Schreibtisch!«
Ly schob alle Papiere auf dem Tisch zur Seite. Die Mappe, in die er die Fotos gelegt hatte, lag wirklich unter einer alten Tageszeitung. Aber sie war leer. Er suchte weiter, irgendwo mussten doch diese verdammten Bilder sein. Sicher waren sie herausgerutscht. Er bückte sich und schaute auf dem Boden unter dem Schreibtisch nach. »Lan! Die Fotos sind hier nirgends.«
»Müssen sie aber«, rief sie zurück.
Ly fluchte. Lan könnte ruhig mal rüberkommen und ihm suchen helfen. Sie war in so etwas besser als er. Aber schließlich fand er die Fotos doch selbst. Sie lagen auf der Kommode neben dem Aquarium. Bang, dachte Ly sofort. Er muss die Fotos da liegen gelassen haben. Er hatte die ganze Zeit beim Aquarium gestanden. Und neugierig genug, um in seinen Unterlagen zu wühlen, war er. Daran zweifelte Ly nicht.
Mit den Fotos in der Hand ging er in Lans Büro zurück. Sie saß an ihrem Computer. Tu stand weit über sie gebeugt neben ihr. Er musste ihr etwas erzählt haben, das sie zum Lachen gebracht hatte. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. Die beiden hatten Ly nicht kommen hören. Er räusperte sich. Tu fuhr hoch, und Lan lächelte ihn an, als sei nichts. Nur ihre Wangen waren mit einem Mal auffallend rot.
»Das sieht aus wie ein Lager irgendwelcher Tierhändler«, sagte Tu, während er die Bilder durchblätterte. »Einer dieser Orte im Wald, an denen sie die Tiere verstecken, bis die Bestellungen eingehen und sie liefern können. InHanoi will heute kein Gastwirt oder Apotheker mehr Tiere als nötig auf Lager haben.«
»Na, siehst du«, sagte Ly. »Also doch Tierhandel.«
»Das beweist gar nichts«, sagte Tu. »Die Fotos kann er überall aufgenommen haben. Das muss doch nicht in diesem Na Cai gewesen sein.«
Ly biss die Zähne zusammen. Musste Tu immer das letzte Wort haben? Er riss ihm die Fotos aus der Hand. Er würde Tu ja doch nicht von seiner Theorie überzeugen können.
*
Ly hatte für heute genug und fuhr in die Bat-Dan, um eine pho bo zu essen. Vor der beliebten Suppenküche im Haus Nummer 49 hatte sich eine lange Schlange gebildet. Ly stellte sich an und sah zu, wie die Herrin des Hauses mit einem Hackbeil geschickt die Rinderbrust zerteilte und in hauchfeine Stücke schnitt. Es hatte fast etwas Meditatives. Hinter ihr an einem Tisch stand ihr Mann, vor sich ein Dutzend große Schüsseln. In jede warf er eine Handvoll frische Reisnudeln, gab dünne Rinderbruststreifen dazu und schöpfte mit einer großen Kelle dampfende Fleischbrühe in die Schalen. Der halbwüchsige Sohn streute Frühlingszwiebeln über die Suppen und teilte die Schüsseln an die Wartenden aus. Ly trug seine pho bo an einen der niedrigen Holztische im Innenraum und bediente sich großzügig am Chili, der neben Schalen mit geviertelten Limetten auf dem Tisch stand. Der Dampf legte sich warm auf sein Gesicht. Um
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