Der letzte Tiger
ihn herum schlürften die Gäste ihre Brühe, redeten, lachten.
Ly hatte noch nicht aufgegessen, als er aus dem Augenwinkel einen Mann sah, der vor der Suppenküche stehen geblieben war. Er kannte ihn. Es war der blinde Wahrsager, dem er schon früher mehrmals begegnet war. Der Mann betrat den Gastraum. Leicht vorgebeugt schlug er alle paar Zentimeter mit einem langen Bambusstock auf den Boden und suchte sich so seinen Weg zwischen den eng gestellten Tischen hindurch. Er steuerte geradewegs auf Ly zu. »Kommissar, da sind Sie ja«, sagte er. Eine Gänsehaut lief Ly über den Nacken. Wie zum Himmel hatte er ihn erkannt? Mit seinen farblosen Pupillen konnte er ihn doch unmöglich sehen.
»Haben Sie schon gegessen?«, fragte Ly und bemühte sich, gleichgültig zu klingen. Er glaubte nicht an Wahrsagerei. Aber dieser Mann war ihm unheimlich. Er behauptete, die Toten redeten mit ihm.
»Noch nicht«, sagte der Blinde.
Ly zog ihm einen Hocker heran. Der Gastwirtin rief er zu, sie möge eine zweite pho bo bringen und zwei Hanoi -Bier.
Ly sah dem Blinden zu, wie er mit einem der tiefen Keramiklöffel die Suppe zum Mund führte. Seine Hand zitterte, und Brühe schwappte auf seinen dürren nackten Unterarm. Es musste heiß sein, aber er zuckte nicht zusammen. Nachdem er die halbe Schale geleert hatte, tastete er nach der Bierflasche und trank, wobei seine Gurgel klackende Geräusche von sich gab. »Fast noch ein Kind«, sagte er zwischen zwei Schlucken. »Im Wald sind die Bäume gefallen. Der Boden ist schwer und nass.«
»Was?«, fragte Ly und merkte selbst, wie gereizt er sich anhörte. »Was soll das bedeuten?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Blinde und lächelte. »Ich wiederhole nur ihre Worte.«
Die Worte der Toten, dachte Ly. Es war nicht das erste Mal, dass der Mann ihm mit solchen kryptischen Sätzen kam.
»Diesmal sollten sie schneller sein«, sagte der Wahrsager. »Sie haben letztes Mal schon versagt.«
» Ma quy «, flüsterte Ly. Geister und Dämonen. Musste er ihn daran erinnern. An die Ermittlung, auf die er anspielte, dachte Ly nur ungern zurück. Ihr Ausgang quälte ihn immer noch.
*
Den Abend hatte Ly mal wieder bei Minh im bia hoi verbracht, und als er nach Hause gekommen war, hatten Thuy und die Kinder schon geschlafen.
Am Morgen wachte er nassgeschwitzt auf. Sein Mund war trocken, und seine Zunge fühlte sich pelzig an. Ohne dass er sich an den Inhalt erinnern konnte, wusste er, dass er einen schlechten Traum gehabt hatte.
Draußen krähte ein Hahn, ansonsten war es still. Die Wohnung war leer. Gut so, dachte er. Er hätte sich ja doch nur wieder mit Thuy gestritten. Einen Moment blieb er noch liegen und stand dann auf. Er musste feststellen, dass die Dose mit dem Kaffeepulver leer war. Er zog sich an und ging hinunter in den Hof. Seine ältere Schwester, die auch noch mit ihren erwachsenen Kindern im Haus wohnte, kochte auf dem Herd im Innenhof das Mittagessen vor. Aus Hieus Wohnung tönte laute Musik, romantische Schnulzen. Ly konnte sich das nur damit erklären, dass sein Bruder schon betrunken war.
Ly fuhr ins Café Mai, setzte sich neben das Aquarium mit den sternfruchtgelben Fischen und bestellte einen Buon-Me-Thuot -Kaffee, einen hauseigenen Kaffee aus dem mittelvietnamesischen Hochland. Der Motor der Kaffeemühle brummte, und die Kaffeebohnen klackerten laut, wann immer ein neuer Sack in den Metalltrichter gekippt wurde. Ly liebte den Duft der frisch gemahlenen Bohnen.
Er trank seinen Kaffee und rief im Quan Ruou No. 1 an. Er wollte Quynh bitten, diese Jacky unter irgendeinem Vorwand anzurufen und um ein Treffen zu bitten. Er wollte noch einmal versuchen, ihr zu folgen. Diesmal am besten mit Verstärkung. Doch Quynhs Sohn, der abnahm, sagte ihm, sein Vater habe ganz spontan weggemusst. Eine Tante habe gestern einen Schlaganfall erlitten. Er sei zu ihr nach Saigon geflogen. Wann er zurückkomme, stehe noch nicht fest.
*
Im Präsidium verbrachte Ly seine Zeit erst mal damit, irgendwelche Papiere, die Lan ihm hingelegt hatte, ungelesen zu unterschreiben. Danach streckte er sich auf dem Sofa aus und beobachtete, wie seine neuen Zwergfadenfische um das Pagodentürmchen kreisten. Ly hatte keine Ahnung, wie er weiter vorgehen sollte. Auch wenn ihn seine private Ermittlung zu Truongs Tod gerade weitaus mehr fesselte, musste er endlich irgendeinen Fortschritt in dem Tigerfall vorweisen. Nur wie? Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, als er Lan durch den Flur rufen hörte: »Ly, mal
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