Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
Vom Netzwerk:
Hütte getreten und entfernte sich etwas. Die Hände um den Mund gelegt, rief er: »Bang. Baaang.«
    Ly ließ sich in die Hocke sinken, den Rücken an den massigen Stamm eines Baumes gelehnt. Er musste erst mal zu Atem kommen. Dass alles nass war, störte ihn schon nicht mehr. Er zog einen Blutegel von seinem Arm, der sich festgesaugt hatte. Das Tier hinterließ eine Blutspur. Es kam ihm vor, als seien sie schon Stunden unterwegs, doch ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es gerade mal kurz vor acht war.
    »Los, weiter«, sagte Pao. Ly quälte sich hoch. Er bereute, nicht den Maisbrei gegessen zu haben, den Pao ihm vor ihrem Aufbruch angeboten hatte.
    Pao ging schnell, blieb aber hin und wieder stehen, betrachtete den Boden und das Gebüsch um sich herum, als suche er Spuren. Das erste Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmte, war ein Krächzen. Sie waren einen steilen Hang hinaufgelaufen und oben auf der Kuppe stehen geblieben.
    Fassungslos starrte Ly auf das, was er da auf der anderen Seite des Hügels sah: eine Schlammwüste, der ganze Hang. Die Holzwilderer hatten nichts übrig gelassen. Nichts, was die Erde noch hielt. Nur Geröll, ein paar Baumstümpfe und roter Boden. An mehreren Stellen waren Schlammlawinen den Hang hinuntergekommen. Nass und schwer. Die Sätze des blinden Wahrsagers schossen Ly durch den Kopf, und eine Gänsehaut fuhr ihm über den Rücken.
    Weiter unten auf dem kahlen Hang flatterten die dunklen Körper von Vögeln auf und stürzten wieder hinab. Xang rannte los. Seine Beine versanken im Schlamm, er fiel mehrmals, rappelte sich aber immer wieder auf. Ly wollte hinter ihm her, doch Pao hielt ihn zurück.
    Xang hatte die Stelle, an der die Vögel eine schwarze Traube bildeten, erreicht und trat schwer mit dem Fuß auf. Die Tiere flogen auf und kreischten. Ly drückte die Augen zu, murmelte ein » lay troi lay dat« .
    »Nicht Bang«, sagte Pao.
    Ly öffnete die Augen. Xang hielt ein totes Tier hoch, vielleicht ein junger Binturong. Auf die Entfernung konnte Ly das nicht genau erkennen.
    »Da!«, rief Pao und zeigte auf eine Stelle weiter hinten am Hang.
    »Was ist da?«, fragte Ly, der dort nur einen Baumstumpf sah, den eine Schlammlawine mitsamt seinen Wurzeln aus dem Boden gedrückt hatte.
    Pao fasste Ly am Arm und zog ihn mit sich. Erst ein Stück die Bergkuppe entlang, dann den Hang hinunter. Lys Füße sanken tief in den Schlamm ein.
    Und jetzt sah Ly auch, was Pao gesehen haben musste.In der ausgehöhlten Stelle unterhalb der Wurzeln lag jemand. Zusammengekrümmt, teilweise von Schlamm bedeckt, die Augen geschlossen, die Haare von Erde und Blut verklebt. Es war Bang.
    In Lys Schläfen pochte es hart. Die letzten Meter rannte er, ließ sich neben Bang auf die Knie fallen, griff nach dessen lebloser Hand.
    Xang, der jetzt auch bei ihnen war, brach weinend zusammen. Seine Finger hatte er in das borstige schwarze Fell des toten Binturong gekrallt. Es sah aus, als halte er sich an einem Stofftier fest. »Die dab qus . Sie haben ihn geholt«, schluchzte er. »Die wilden Geister, sie waren es.«
    »Sei still«, fuhr Pao ihn an. Seine Augen huschten unruhig hin und her. Er beugte sich vor, fühlte Bangs Puls, strich ihm sanft die verklebten Haare aus dem Gesicht und murmelte leise vor sich hin. Als ob er jetzt noch Bangs Seelen irgendwelchen Geistern entreißen konnte, dachte Ly und spürte Zorn in sich aufsteigen. Doch dann sah er, dass Bangs Brustkorb sich ganz leicht bewegte.
    Auf einer Trage aus Bambus und quer gezogenen Winden, die Xang auf Paos Anweisung hin innerhalb von Minuten gebaut hatte, trugen die beiden Hmong Bang aus dem Wald. Ly stolperte hinter ihnen her.
    *
    Während sie noch liefen, schaute Ly immer wieder auf sein Telefon, ob er endlich Empfang hätte. Sobald das Signal aufblinkte, drückte er die Nummer von Bangs Vater.Die Verbindung war schlecht. Ly hörte nur ein weit entferntes »…allo«.
    »Wir haben Bang«, schrie Ly. »Kommen Sie zur Hmong-Siedlung. Zu Pao.«
    Dann war die Verbindung auch schon wieder abgebrochen.
    *
    Sie legten Bang auf das Bett in Paos Hütte. Er war bleich wie Wachs. Ein paar Mal war er aufgewacht und hatte sich übergeben. Jetzt hatte er die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Pao saß neben ihm auf der Bettkante und wischte mit einem Lappen über sein Gesicht.
    Ly wusste nicht, wie lange sie schon zurück waren, als er draußen schwere Schritte und ein Ächzen und Keuchen hörte. Die Tür zur Hütte wurde aufgestoßen, und Nguyen Duy

Weitere Kostenlose Bücher