Der letzte Tiger
Braue hatte er eine Platzwunde. So schlimm, wie es aussah, fühlte es sich gar nicht an.
»Schlägerei?«, fragte die Krankenschwester. Eine Antwort schien sie nicht zu erwarten. Sie drückte mit dem Zeigefinger auf seiner Wange herum.
»Aua«, entfuhr es Ly.
»Nun haben Sie sich mal nicht so.« Sie desinfizierte die Wunde über dem Auge, klebte ein Pflaster darüber und gab ihm Paracetamol gegen die Schmerzen.
Als Ly wieder in den Wartebereich kam, saß der Grenzer auf einem der orangefarbenen Klappstühle, die im Gang an die Wand geschraubt waren, und starrte ins Leere. Ly setzte sich neben ihn und zündete sich eine Thang Long an. Er wollte auf jeden Fall bleiben, bis er wusste, wie es Bang ging. Dann verpasste er eben die Vernehmung der Zoodirektorin. Das war ihm jetzt auch egal. Er machte sich Vorwürfe. Ohne ihn wäre Bang nicht alleine in den Wald gegangen. Er versuchte sich klar zu werden, was eigentlich passiert war. Er zweifelte nicht daran, dassüber Na Cai Tiere von Laos nach Vietnam geschmuggelt wurden. Und er war sich ziemlich sicher, dass die Baronin dabei eine zentrale Rolle spielte. Und auch Bangs Vater musste involviert sein. Er war der Grenzchef. Ly konnte sich nicht vorstellen, dass all die Tiere über die grüne Grenze geschleppt wurden. Das Gelände war viel zu unwegsam. Und die Straße war da, warum sie also nicht nutzen? Vielleicht hatte auch Bang von dem Schmuggel gewusst, immerhin half er ab und zu an der Grenzstation aus.
Ly räusperte sich. Er musste mit dem Grenzer reden, wusste aber nicht, wie er anfangen sollte. Schließlich sprach er einfach aus, was ihm eben durch den Kopf gegangen war. Nguyen Duy Cao saß weiter regungslos auf seinem Stuhl.
»Hier, schauen Sie sich das an«, sagte Ly und hielt ihm sein Telefon mit dem Film, den Bang gemacht hatte, vor die Nase. »Die Käfige stehen bei Na Cai im Wald. Ganz da in der Nähe haben wir Bang gefunden.«
Immer noch verzog der Mann keine Miene, aber er hatte jetzt seine Fingernägel in seine nackten Unterarme gebohrt.
»Was ist da oben bei Ihnen los?«, fuhr Ly fort. Doch kaum hatte er die Frage ausgesprochen, ging die Tür zum Untersuchungsraum auf, und ein Arzt kam heraus und auf sie zu. »Nguyen Duy Cao?«, fragte er.
Der Grenzer sprang auf. »Das bin ich.«
»Ihr Sohn hat eine schwere Gehirnerschütterung«, sagte der Arzt. »Und eine Platzwunde am Hinterkopf.«
»Wie geht es ihm?«
»Den Umständen entsprechend gut.«
»Kann ich zu ihm?«
»Später.« Der Arzt sah Nguyen Duy Cao forschend an. »Ich wüsste gerne zuerst, was passiert ist.«
»Ein Unfall«, sagte der Grenzer.
»Ich habe ihn gefunden«, mischte Ly sich ein. »Er ist in einen Erdrutsch gekommen. In einem abgeholzten Waldstück.«
»Sind Sie sicher?«, fragte er Arzt. Er klang wenig überzeugt. »Diese Kopfwunde. Für mich sieht das eher danach aus, als habe da jemand ganz gezielt mit einem Stein zugeschlagen. Es ist ein Wunder, dass der Junge lebt.«
*
»Ly, wo steckst du?«, fragte Lan, die ihn auf dem Handy angerufen hatte. »Du musst doch längst gelandet sein.«
»Im Krankenhaus.«
»Wie geht es dem Jungen?«
»Er wird wieder.«
»Der Parteikommissar hat angerufen. Die haben längst mit der Vernehmung der Zoodirektorin angefangen.«
Ly zog an seiner Zigarette und atmete langsam aus. »Tu ist doch da. Der schafft das schon alleine.«
Lan lachte auf. »Den hat der Parteikommissar nicht mal als Zuhörer zugelassen. Los, beeil dich.«
Verflucht, musste er immer alles alleine machen? Er rannte aus dem Krankenhaus und winkte sich vor dem Tor ein Taxi heran. Er trug immer noch dieselbe Kleidung, mit der er durch den Wald gelaufen war. Der Fahrer wollte ihn kaum einsteigen lassen. So wie er aussah, konnte er nicht im Volkskomitee auftauchen. Er ließ das Taxi vor einemBekleidungsgeschäft halten, sprang schnell in den Laden, kaufte das erstbeste Hemd in seiner Größe und eine Hose und zog sich während der Fahrt im Wagen um.
Das Volkskomitee lag am See des zurückgegebenen Schwertes direkt im Stadtzentrum. Ly versuchte noch mühsam, seine neue Hose anzuziehen, da waren sie schon angekommen.
Bei einem der Wachhabenden am Haupttor wies er sich aus und stopfte sich das Hemd in die Hose, während der Mann seinen Namen auf einer Liste suchte. »Sie werden erwartet«, sagte der Uniformierte. Er schickte ihn zum Hauptgebäude, einem klotzigen sozialistischen Bau, der, wie Ly fand, mit seiner glatten Blendfassade wie ein Hochbunker aussah, nicht wie der
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