Der letzte Tiger
Cao stand im Raum. Sein vernarbtes Gesicht war puterrot, die Klappe über seinem Auge verrutscht und seine leere Augenhöhle sichtbar. Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er auf das Bett, auf dem sein Sohn lag. Dann stürmte er auf Pao zu, packte ihn mit seinen großen Händen, riss ihn hoch, schüttelte ihn, brüllte: »Nicht Bang! Was habt Ihr mit ihm gemacht. Neeeein!«
Ly sprang vor, griff einen Arm des Grenzers und versuchte, ihn von Pao wegzuziehen. Der schwere, bullige Mann wirbelte herum, schleuderte seine Faust durch die Luft und traf Ly im Gesicht. Bevor Ly sich wegdrehen konnte, traf ihn ein zweiter Schlag, diesmal knapp neben dem Auge. Sein Kopf schlug zur Seite, seine Beine gaben unter ihm nach, und er sank zu Boden. Er schmeckte Blut, und seine Zunge fühlte sich geschwollen an.
Xang erschien in der Haustür. Das Huhn, das er an den Beinen gefasst hatte, ließ er fallen. Es rannte laut gackernd davon.
Bevor der Grenzer weiter um sich schlagen konnte, ließ ein Geräusch ihn herumfahren. Bang hustete und würgte. Wasser und Speichel liefen ihm aus dem Mund. Der Grenzer ließ sich auf die Knie fallen, griff nach der Hand seines Sohnes und drückte sie sich gegen das Gesicht. Sein ganzer Körper bebte.
*
Noch bevor Bangs Vater aufgetaucht war, hatte Ly einen Hubschrauber aus Hanoi angefordert, der den Jungen in ein Krankenhaus in die Stadt fliegen sollte. Die Telefonverbindung nach Hanoi war aus irgendeinem Grund besser gewesen als die zu Bangs Vater unten im Dorf. Die Zentrale hatte ihm gesagt, es werde ungefähr zwei Stunden dauern, bis der Hubschrauber bei ihnen sei. Aber damit waren sie immer noch schneller, als den Jungen in eines der weit entfernten Bergkrankenhäuser zu transportieren. Und die Ärzte in Hanoi waren auch besser.
Sie hörten den Hubschrauber schon eine ganze Weile. Er kreiste über ihnen, bis der Pilot einen geeigneten Landeplatz gefunden hatte.
Während des Fluges saß der Grenzer zusammen mit dem Sanitäter hinten bei Bang, Ly vorne neben dem Piloten. Hin und wieder zeigte der Pilot nach unten und schrie Ly etwas zu. Aber durch das Dröhnen des Motors hörte Ly nicht, was er sagte. Unter ihnen lagen dicht von Wald bewachsene Berge. Ly konnte aber auch vereinzelt kahle Flächen ausmachen, und desto weiter sie sich von ihrem Abflugortentfernten, umso lichter wurde der Wald. Immer mehr Berghänge waren bis oben hin abgeholzt.
Ly fragte sich, wie Pao Bang da draußen im Wald gefunden hatte. Er konnte nicht glauben, dass es die Sätze des blinden Wahrsagers gewesen waren, die ihm den Weg gewiesen hatten. Pao hatte das behauptet. Aber eigentlich war es auch egal. Ly war nur froh, dass sie den Jungen gefunden hatten und bald im Krankenhaus sein würden. Sie konnten nicht mehr weit von Hanoi entfernt sein. Am Horizont machte er schon die für die Stadt so typische gelblich schimmernde Dunstglocke aus. Er zog sein Telefon aus der Tasche, um zu schauen, wie lange der Hubschrauber bisher gebraucht hatte, und sah, dass eine SMS eingegangen war. Sie kam von Lan. »Neue Vernehmung der Zoodirektorin: 17 Uhr. Im Volkskomitee. Zimmer 105.« Ly fluchte, das war in zwei Stunden. Und überhaupt, wieso fand die Vernehmung im Volkskomitee statt? Das konnte nur wieder eines dieser Entgegenkommen des Parteikommissars gegenüber seinen Parteigenossen aus der Stadtregierung sein.
*
Sie flogen Bang in das Militärkrankenhaus 108 in der Tran-Hung-Dao, derselben Straße, in der sich auch das Polizeipräsidium befand. Noch während der Rotor sich drehte, zogen Sanitäter Bang auf seiner Trage aus dem Hubschrauber und trugen ihn in die Ambulanz. Nguyen Duy Cao lief neben ihnen her und hielt Bangs Hand. Ly folgte ihnen durch lange Gänge bis zu einer Tür, über der zwei rote Warnleuchten blinkten. Es roch nach Putzmittel und Blut, eine Mischung, von der Ly übel wurde.
»Sie warten hier«, sagte einer der Sanitäter.
»Ich bleibe bei meinem Sohn«, sagte Nguyen Duy Cao und wollte mit in den Untersuchungsraum gehen, doch der Sanitäter drückte ihm eine flache Hand auf die Brust und schob ihn zurück. »Sie bleiben hier«, sagte er bestimmt und schloss die Tür hinter sich. Der Grenzer stand mit hängenden Armen vor der Tür und rührte sich nicht.
»Und Sie kommen mit mir«, sagte eine Krankenschwester zu Ly. Sie kommandierte ihn in eine nur mit einem Vorhang abgetrennte Kabine und zog ihn vor einen Standspiegel. Seine rechte Gesichtshälfte war geschwollen, sein Auge blau unterlaufen. Über der
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