Der letzte Tiger
Sitz einer Volksvertretung.
Ly zog die schwere Tür auf und trat in die nur schwach beleuchtete Eingangshalle. Er folgte einem Wegweiser, der die Zimmernummern auswies. In dem nicht enden wollenden Flur standen zwei bewaffnete Polizisten und rauchten. Vor Zimmer 105 blieb Ly stehen und atmete tief durch, bevor er klopfte. Er hörte Stimmen, ein Frauenlachen, dann rief jemand: »Herein.«
Ly öffnete die Tür und sah zuerst Ho-Chi-Minh, dessen bronzene Büste auf einem Podest an der Rückwand des holzvertäfelten Raumes stand. Über ihm flackerte eine Neonröhre. Die Klimaanlage war mindestens zehn Grad zu kalt eingestellt. Ly hatte sofort eine Gänsehaut.
»Genosse Ly, da sind Sie ja endlich«, sagte Parteikommissar Hung. Er saß am Kopf eines langen Konferenztisches. Zu seiner Rechten saßen Richter Cang und ein Mann, den Ly nur vom Sehen kannte, von dem er aber wusste, dass er als Abgeordneter im Volkskomitee saß undden Ruf hatte, sehr einflussreich zu sein. Ihnen gegenüber saß die Zoodirektorin Nguyen Thu Nga. Sie hatte Ly den Rücken zugewandt und schaute sich auch nicht nach ihm um.
»Sie sind spät dran, Genosse.« Der Parteikommissar musterte Ly. »Und wie sehen Sie überhaupt aus?«
Ly schaute an sich hinunter. Etwas knittrig waren die neuen Klamotten, aber sauber.
»Genosse! Ich meine Ihr Gesicht«, schob Parteikommissar Hung hinterher.
»Entschuldigen Sie«, stotterte Ly. An sein Gesicht hatte er gar nicht mehr gedacht. Die Schmerztabletten wirkten. Vielleicht sollte er seiner Mutter auch mal heimlich Paracetamol unterjubeln. »Ein Unfall. Ich bin mit …« Ly brach mitten im Satz ab. Der Parteikommissar hörte ihm sowieso schon nicht mehr zu. Er hatte sich Richter Cang zugewandt. »Also, wo waren wir stehengeblieben?«, fragte er.
»Ich denke, wir sind durch mit unserem mit tinh «, sagte der Richter.
Der Mann vom Volkskomitee erhob sich und sagte: »Ich bin froh, dass wir uns hier so einvernehmlich einigen konnten.«
»Ja, das ist in unser aller Interesse«, entgegnete Parteikommissar Hung.
Jetzt drehte die Zoodirektorin sich zu Ly um. Ein Lächeln umspielte ihren Mund. Ihm fiel das Parteiabzeichen auf, das am Kragen ihrer Bluse steckte. »Entschuldigen Sie«, sagte Ly. »Ich verstehe nicht ganz.«
»Es wird keine Anklage geben«, sagte Richter Cang.
»Keine Anklage?« Ly sah den Richter überrascht an. Er war nicht davon ausgegangen, dass der Richter einen Freiheitsentzugfür die Zoodirektorin in Betracht gezogen hatte. Er hatte aber doch zumindest mit einer Geldstrafe und dem Verlust ihres Arbeitsplatzes gerechnet.
»Der Tiger wurde verkauft, um Gelder für den Zoo einzunehmen«, sagte Richter Cang.
»Es ist trotzdem illegal. Und es war nicht nur der eine Tiger. Sie hat auch schon vorher Affen …«
»Genosse Ly«, unterbrach der Parteikommissar ihn. »Der Fall ist abgeschlossen!«
Richter Cang nickte. »Abgeschlossen, ja. Frau Nguyen Thu Nga wollte sich nicht selbst bereichern. Unsere werte Parteigenossin hat nur an das Wohl unseres Zoos gedacht.«
Werte Parteigenossin, natürlich. Es war doch immer dasselbe. Verdammter Parteiklüngel, dachte Ly. Die Frau vom Haus an den Gleisen dagegen hatte nicht die richtigen Beziehungen gehabt. Sie hätte man an den Pranger gestellt – wäre sie nicht vorher ermordet worden.
Für einen Moment herrschte Stille. Die Zoodirektorin lächelte Ly immer noch an. Ihre Augen, die sie dabei zusammenkniff, ließen Ly an eine Schlange denken. Hinterhältiges Biest, dachte er. Diese Frau hatte genau gewusst, dass sie das Volkskomitee und ihre Genossen hinter sich hatte. Ly ärgerte sich, aber immerhin war er jetzt sicher. Mit Truongs Tod hatte sie nichts zu tun. Einen Mord, um ihre Tat zu vertuschen, hatte sie wirklich nicht nötig gehabt.
»Ja, dann«, sagte Ly matt. Mehr fiel ihm nicht ein. Er wollte nur noch raus hier, nach Hause, etwas essen und endlich schlafen.
Der Mann vom Volkskomitee klatschte in die Hände. »Wenn es nichts weiter gibt«, sagte er in gutgelauntemTonfall. »Zeit fürs Abendessen.« Er lud sie alle in ein teures Restaurant am Westsee ein. Jetzt gingen sie auch noch mit dieser Frau aus, dachte Ly und fragte sich, wofür er eigentlich überhaupt noch ermittelte. Er selbst schlug die Einladung dankend aus. Er wusste, etwas anderes wurde auch gar nicht von ihm erwartet.
Richter Cang war mit dem Mann vom Volkskomitee und der Zoodirektorin schon draußen im Gang, als der Parteikommissar ihn noch einmal kurz beiseitenahm.
»Genosse
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