Der letzte Tiger
bitte?«, fragte der Hauptwachtmeister.
»Nichts.«
»Sie denken auch, Sie können sich alles erlauben, was?«, brüllte der Mann.
»Idiot«, schimpfte Ly jetzt laut, doch der Hauptwachtmeister hatte schon aufgelegt.
Ly zahlte und rannte zurück ins Präsidium. In der Toreinfahrt stieß er fast mit Ngoc zusammen, der ihn am Arm packte, mit von Wut verzerrtem Gesichtsausdruck. Sein Kiefer war dunkel angelaufen, der Fleck zog sich bis zum Auge hinauf. »Ly! Wenn ich dich …«
»Lass mich los.« Ly schlug Ngocs Hand mit aller Kraft weg.
»Ly!«
Doch Ly rannte schon weiter.
»Ly!«, hörte er Ngoc noch rufen, als er schon die Stufen in den zweiten Stock hinaufsprintete. Oben riss er Lans Bürotür auf.
»Verbinde mich mit dem Grenzschutz von Na Cai«, sagte er atemlos. Dann erst sah er, dass Tu da war. Er war vom Sofa aufgesprungen, wo er neben Lan gesessen haben musste, und stopfte sich sein Hemd in die Hose. Sein Gesichtwar feuerrot, genauso wie Lans. Ly atmete laut aus. Lan mochte ja über dreißig sein und bald niemanden mehr abbekommen, aber es musste doch nicht gerade Tu sein. Und überhaupt, hier im Büro.
»Ly, ich …«, stotterte Lan.
»Stell mich einfach nach Na Cai durch«, sagte Ly.
*
Zehn Minuten später hatte Ly den Grenzchef Nguyen Duy Cao am Apparat.
»Kommissar Ly? Was wollen Sie?«, fragte der ruppig.
»Ich muss mit Bang sprechen.«
»Er war bei Ihnen, oder? Als er in Hanoi war. Wenn ich …«
»Wo ist er?«, unterbrach Ly den Grenzer.
»Weiß ich nicht. Ich bin seit zwei Tagen im Dienst.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen, seit er aus Hanoi zurück ist?«
»Ich sagte doch, ich hab Dienst.«
»Falls er nicht im Dorf ist, melden Sie ihn als vermisst«, sagte Ly.
»Bei unserem Dorfbullen?« Der Mann lachte auf. »Und wieso überhaupt?«
»Wissen Sie etwas von Tierkäfigen?«, fragte Ly. »Sie müssen irgendwo bei Na Cai im Wald stehen.«
Für einige Sekunden hörte Ly nur das Atmen des Grenzers, bevor der Mann etwas leiser als vorher sagte: »Ich gehe nie in den Wald. Und Bang auch nicht.«
»Doch, tut er.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Glauben Sie mir.«
»Er kennt sich im Wald gar nicht aus.«
»Er geht zusammen mit seinem Freund Xang in den Wald.«
»Was reden Sie da eigentlich? Ich habe Bang verboten, mit diesem Hmong rumzuhängen. Das ist kein Umgang für ihn.«
»Und Sie meinen, er hat auf Sie gehört, ja?«
Der Grenzer schnaufte und legte einfach auf. Ly stand mit dem Hörer in der Hand da. Sein Herz pochte. Ihm war heiß. Vor den Fenstern bogen sich die Königspalmen im Wind. Ein Unwetter zog auf. Irgendwo knallte eine Tür. Mehrmals drückte er die Wahlwiederholungstaste, doch Nguyen Duy Cao nahm nicht mehr ab.
Vielleicht saß Bang zu Hause vor dem Fernseher. Aber Lys Gefühl sagte ihm, dass er das nicht tat. Er musste an die Sätze des Blinden denken, die sofort wieder ihre Wirkung taten und seine Unruhe noch verstärkten. Er wollte nicht noch einmal für den Tod eines Teenagers verantwortlich sein.
Über die Fahrzentrale rief Ly sich einen Dienstwagen mit Fahrer. Gegen ein gutes Trinkgeld würde der Parteikommissar davon nichts mitbekommen. Und Ly könnte im Auto zumindest etwas Schlaf nachholen. Immerhin hatte dieser Gefängniswärter ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt.
*
Der Wagen war ein gut gefederter Jeep. Trotz seiner Unruhe schlief Ly sofort ein und wachte erst kurz vor Hoa Binh wieder auf. Es regnete ohne Unterlass. Das Wasser standhoch in den abgeernteten Feldern, und Wolken hingen in den Bäumen. Einmal war der Regen so stark, dass sie anhalten mussten, bis die Sicht wieder besser wurde. Während Ly dem Prasseln auf dem Wagendach lauschte und zusah, wie das Wasser an der Fensterscheibe herabströmte, fragte er sich, ob er richtig lag oder seine Angst um Bang eher seiner Übermüdung zuzuschreiben war.
Als sie die Abbiegung nach Na Cai nahmen, war es früher Abend. Ly hatte noch mehrmals versucht, Bang über Handy zu erreichen, aber ohne Erfolg. Sein Telefon war entweder ausgeschaltet, oder es hatte keinen Empfang. Kurz überlegte Ly, sich in Na Cai nach dem Haus des Grenzers durchzufragen, um sich zu vergewissern, dass Bang nicht doch zu Hause war. Aber er ließ es bleiben. Er hatte Angst, Zeit zu verschwenden. Kurz vor dem Ortsschild von Na Cai stieg er aus und schickte den Fahrer in den nächstgrößeren Ort zurück, um sich ein Hotel für die Nacht zu suchen. Er selbst nahm den Pfad den Berg hinauf, über den Pao ihn mit der Vespa
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