Der letzte Tiger
es Bang ging, und sich außerdem mit dem Grenzer verabreden. Irgendwie musste er ihn doch zum Reden bringen. Aber dessen Mobiltelefon war ausgestellt. Eine Schwester im Militärkrankenhaus, wo Ly daraufhin anrief, sagte ihm, Nguyen Duy Cao sei die ganze Nacht bei seinem Sohn gewesen, gerade jetzt aber nicht im Krankenzimmer. Auf Lys Frage hin, wie es Bang gehe, sagte sie nur, er müsse noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Ly bat sie, Nguyen Duy Cao auszurichten, er würde später im Krankenhaus vorbeikommen.
»Kannst du nicht mal einen Tag Pause machen«, drängte Thuy ihn, sobald er aufgelegt hatte, und fuhr mit den Fingerspitzen sanft über seinen Rücken. Er musste sich eingestehen, er genoss es, dass seine Frau sich so um ihn sorgte.»Ich muss noch kurz einen Kollegen sprechen«, sagte er. »Dann fahren wir hoch zum Westsee. Was meinst du? Ich habe Duc versprochen, mit ihm Tretboot zu fahren. Vielleicht hat Huong ja auch Lust.«
*
Ly schickte Tu eine SMS, er solle ins Paris Deli kommen, einem Café an der St.-Josephs-Kathedrale. Das war zwar einer dieser viel zu teuren Läden mit französischem Gebäck und Milchkaffee, aber gleich bei Ly um die Ecke und ein guter Ort, um in Ruhe zu reden.
Ly ging zu Fuß. Als er ankam, saß Tu schon an einem Tisch am Fenster und tippte mit den Fingern auf der marmornen Tischplatte herum.
»Und?«, fragte Tu, ohne auch nur ein »Hallo« vorzuschieben.
Ly fasste für ihn zusammen, was bei der Vernehmung der Zoodirektorin am Abend zuvor herausgekommen war.
»Ich hab’s geahnt.« Tu schlug mit der Hand auf den Tisch und fluchte. »Die eigenen Tiere an den Schwarzmarkt verkaufen – ist das jetzt das neue Modell der Zoofinanzierung?«
Ly beugte sich zu Tu vor und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Die haben die Zoodirektorin laufen lassen. Aber da sind noch andere Leute in dieses Geschäft verwickelt. Die können wir noch dranbekommen.« Dass der Parteikommissar ihn beurlaubt hatte und nicht wollte, dass der Fall mit dem Tiger am Literaturtempel weiter verfolgt wurde, verschwieg Ly. So einfach würde er den Fall nicht ad acta legen, nicht, bevor er nicht den Auftraggeberfür Truongs Mord überführt hatte. Er war sich sicher, dass der oder die Hintermänner des Tierhandels Truongs Tod angeordnet hatten, ebenso wie sie die Gefängniswärter bestochen hatten, die Schlange in Le My Liens Zelle zu legen. Und vielleicht steckten sie auch hinter dem Unfall am Literaturtempel, obwohl er sie eigentlich nicht als so dumm einschätzte. Durch den Tiger war die ganze Ermittlung ja erst ins Rollen gekommen. Und was mit Bang passiert war, konnte er sich auch nicht ganz erklären, aber auch der Junge musste – wie Truong – etwas beobachtet haben, was er nicht hatte sehen sollen.
»Wenn diese anderen Leute Beziehungen haben, werden sie auch wieder davonkommen«, sagte Tu.
»Es muss ja nicht immer so sein«, wandte Ly ein.
»Ist es aber. Soll ich Ihnen mal von meinem letzten Fall erzählen? Da haben wir über Wochen eine Bärenfarm in der Nähe von Hai Phong beobachtet. Touristen aus Südkorea sind da mit Reisebussen hinkutschiert worden. Für die war das eine Attraktion zuzusehen, wie den Bären die Gallenflüssigkeit entnommen wurde. Dass das illegal ist, war denen völlig gleichgültig. Die haben das sogar gefilmt.«
Ly dachte an Huong und den Videoclip mit den Schreien, den sie ihm vorgespielt hatte.
»Wir sind da rein, als sie gerade einem Bären die Kanüle ins Fleisch gebohrt haben. Wir haben sie alle erwischt. Die Touristen, den Farmbesitzer, mehrere Angestellte. Und trotzdem gab es nicht eine Anklage. Protektion von oben, das ist doch alles, was zählt. Und ich hatte geglaubt, ich könnte durch meine Arbeit etwas verändern.«
»Diesmal ist es anders«, versuchte Ly ihn zu beschwichtigen.»Es geht nicht nur um die Tiere, sondern auch um Mord.«
Tu schüttelte den Kopf. »Mir reicht’s. Vielleicht gehe ich einfach wieder nach Australien.«
»Ach komm, hör auf.«
»Ich meine das ernst. Mein alter Professor in Melbourne hat mir eine Stelle an seinem Umweltinstitut angeboten.«
»Darüber wird Lan sich aber nicht freuen.«
Tu zog eine Braue hoch und sah Ly mit einem schüchternen Grinsen an. »Vielleicht kommt sie ja mit?«
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Ich werde sie fragen.«
»Untersteh dich«, sagte Ly. Die Vorstellung, auf seine Assistentin verzichten zu müssen, weil sie mit einem frustrierten Polizisten nach Australien auswanderte, gefiel ihm
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