Der letzte Tiger
lächelte und öffnete eine Cola-Dose. Es schien sie nicht besonders zu stören, noch länger auf dem See zu bleiben.
Ly griff nach dem Deckel der Kühlbox, beugte sich über den Bootsrand und versuchte es mit Paddeln.
Huong und Duc legten sich flach auf den Bauch und halfen mit den Händen nach. Es dauerte keine fünf Minuten, und sie hatten begonnen, sich gegenseitig nass zu spritzen.
»Lasst das, diese Dreckbrühe«, sagte Ly. »Schaut euch mal die ganzen toten Fische an.«
Die beiden hielten sofort inne. »Igitt«, rief Huong. »Bääh«, schrie Duc.
Das Boot trieb wieder bewegungslos auf dem See.
»So kommen wir nie an Land«, sagte Thuy, stippte ein Stück Pomelo in das Chili-Salz und schob es sich in den Mund.
Ly hob die Hand über die Augen. Im gleißenden Licht der Sonne entdeckte er mehrere andere Boote. Allerdings waren sie alle zu weit entfernt, um sie zu Hilfe zu rufen. Und der Bootsverleiher würde erst am Abend auf den See fahren, um die letzten umhertreibenden Tretboote abzuschleppen. So lange konnte Ly nicht warten. Er zog seine Schuhe aus und ließ sich ins Wasser gleiten, wobei er den Mund zudrückte, um bloß kein Wasser hineinzubekommen. Schwimmend schob er das Boot Richtung Ufer, darauf bedacht, nicht mit den Füßen den schlickigen Boden zu berühren. Seine Kinder standen oben und lachten. Und auch Thuy verkniff sich ein Grinsen nicht.
»Das ist gar nicht lustig«, fuhr Ly sie an. Er fand dieses Wasser einfach nur widerlich.
An Land hatte sich eine Menschentraube angesammelt, die das Manöver unter johlendem Beifall verfolgte.
*
Zu Hause duschte Ly lange heiß und schrubbte sich mehrmals mit Seife ab. Als er nach oben kam, hatte Thuy ihm von einem Straßenstand eine mien mang ngan geholt. Eine Glasnudelsuppe mit Ente und Bambusgemüse. Die Suppe tat gut. Sobald er aufgegessen hatte, brach er in die Hang-Trong auf. Vielleicht waren Bang und sein Vater in der Wohnung der Baronin. Die junge Verkäuferin unten im Souvenirladen versicherte Ly jedoch, dass weder die Baronin noch Bang aufgetaucht seien, seitdem er das letzteMal da gewesen war. Und Bangs Vater habe sie noch nie gesehen. Ly wunderte sich, dass der Grenzer nie hier gewesen sein sollte. Doch dann fiel ihm ein, was Bang im Präsidium über seinen Vater gesagt hatte. Er sei nicht gerne unter Menschen und würde die Stadt meiden. Und wenn er mal nach Hanoi kam, dann nur um ein paar alte Freunde aus Armeezeiten zu besuchen, die unten am Fluss lebten.
Phuc Tan, dachte Ly, das Stadtviertel zwischen Fluss und Deichmauer, in dem auch der Unfallfahrer vom Literaturtempel gewohnt hatte.
Noch war in den Gassen von Phuc Tan nicht viel los. Die Wanderarbeiter würden erst mit Einbruch der Dunkelheit zu ihren Unterkünften zurückkehren. Nur hier und da war schon eine Garküche oder ein bia hoi geöffnet, in denen Ly sich nach dem Grenzer erkundigte. Erfolglos. Nicht einmal die Kinder auf der Straße, die er nach Nguyen Duy Cao fragte, wollten ihn je gesehen haben. Und gerade sie hätten doch sein vernarbtes Gesicht und die Augenklappe nicht vergessen. Er fragte sich, ob Bang vielleicht nicht »am Fluss«, sondern »auf dem Fluss« gemeint haben konnte. Er hielt es zwar für unwahrscheinlich, dass ein Grenzer aus Na Cai Schiffer kannte, die auf dem Roten Fluss lebten. Aber er musste es versuchen, eine bessere Idee hatte er nicht.
Er nahm die geschwungene Auffahrt zur Long-Bien-Brücke. In der kleinen Bahnhofsstation stand der Zug nach Hai Phong. Die losen Wegplatten der Brücke schlugen unter den Rädern von Lys Vespa auf die Metallträger. Über hundert Jahre war die Eisenbahnbrücke alt und immer nur provisorisch repariert worden. Ly fuhr, bis er überder großen Sandbank war, die sich längs durch den Roten Fluss zog. Die Betonrampe, die von der Brücke hinunter führte, war so steil, dass Ly abstieg und die Vespa schob. Unten folgte er einem Pfad zwischen hohen Maispflanzen und Papayabäumen entlang zum Ufer. Die Nachmittagssonne stand niedrig und schimmerte auf dem rostbraunen Wasser. Hühner staksten auf der Suche nach Futter durch den Schlick. Ein einziger Sampan hatte festgemacht. Ly kannte den Mann, der am Bug des langen Holzbootes stand. Während seiner letzten Mordermittlung hatte er fast alle Sampanschiffer um Hanoi kennengelernt. Er begrüßte den Mann und beschrieb ihm Nguyen Duy Cao.
»Er soll eine Augenklappe haben?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Sampanschiffer ist das nicht.«
»Er muss Freunde auf dem
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