Der letzte Tiger
gar nicht.
Ly sah Tu noch hinterher, wie er mit seiner schicken Honda Forza um die Ecke verschwand. Er fuhr zu schnell, genauso wie Ly es immer tat, wenn er wütend war. Dann ging Ly nach Hause, um Thuy und die Kinder abzuholen.
*
Sie fuhren mit der Vespa. Duc stand vorne zwischen Ly und Lenker, Thuy und Huong saßen hinter Ly. Die Kühlbox mit dem Picknick hatte Huong sich unter einen Arm geklemmt. Die Sonne schien, ohne dass es allzu heiß war. Es war lange her, dass sie zuletzt alle vier zusammen auf seiner Vespa gefahren waren. Thuy schlang ihre Arme um Lys Bauch, und Duc rief ununterbrochen: »Schneller,schneller!« Doch schneller ging es nicht. Ly konnte so schon kaum noch lenken.
Hinter der Ampel am Leninplatz standen mehrere Verkehrspolizisten, winkten sie aber, obwohl sie so überladen waren, nicht heraus.
Sie fuhren am Ho-Chi-Minh-Mausoleum vorbei und bogen links zur Straße der Jugend ab. Hier hingen an den Straßenlaternen noch immer die roten Banner vom Nationalfeiertag im September: »Nichts ist wertvoller als Unabhängigkeit und Freiheit.«
»Halt«, schrie Huong. Ly bremste, und sie kippten seitlich weg. Gerade noch konnte er die Vespa mit dem Fuß abstützen. Huong sprang ab. Die Kühlbox, die sie gehalten hatte, donnerte auf den Boden. »Mein Bein ist eingeschlafen«, schrie sie lachend und hüpfte einen Moment wild herum, bevor sie sich wieder hinter ihre Mutter auf den Sitz drängte.
Der Tretboot-Verleih am Westsee lag direkt neben der Tran- Quoc-Pagode. Duc suchte sich ein Boot aus: ein hellblaues in Schwanenform, mit gelben Sitzschalen und einem zerfetzten roten Stoffdach. Ly zahlte für drei Stunden im Voraus.
Duc und Ly traten zuerst in die Pedale. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser. Eine leichte Brise wehte. Misstrauisch betrachtete Ly die Fische, die Bauch oben neben dem Boot trieben. Abwasser, Hausmüll, Motorenöl – er wollte sich gar nicht so genau vorstellen, was alles im See landete. Bloß nicht kentern, dachte Ly und versuchte, möglichst nah am Ufer entlangzusteuern.
Auf der Seepromenade waren Fußgänger und Jogger unterwegs. Männer hatten ihre Angeln ausgeworfen. Hinund wieder fuhr ein Motorrad vorbei. Um die neue Promenade zu bauen, hatten die Besitzer der an den See angrenzenden Villen ein Stück ihrer Grundstücke abgeben müssen. Eine Enteignung, die ausnahmsweise mal dem Volk zugutekam, dachte Ly.
In Höhe des Tay-Ho-Tempels ließen sie das Boot treiben. Ly setzte sich nach hinten zu Thuy, die dabei war, das Picknick auszupacken. Goi cuon vit , Reispapier-Rollen mit Entenfleisch, dazu Pomelo mit Chili-Salz, Bananenblütensalat und frisches Baguette. Ly reichte sie eine Dose Tiger -Bier. Er lehnte sich zurück, legte seine Hand auf Thuys Bein und genoss die warme Herbstsonne im Gesicht. Er war kurz davor wegzudösen, als sein Telefon klingelte.
Thuy verdrehte die Augen. »Bitte, nicht jetzt.«
Ly warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und nahm ab.
Der Anrufer war Bangs Arzt aus dem Militärkrankenhaus. »Der Junge ist weg«, sagte er.
»Was heißt das: weg?«
»Verschwunden. Vermutlich mit seinem Vater. Eine der Schwestern meint, gesehen zu haben, wie sie in ein Taxi gestiegen sind.«
Ma quy . Geister und Dämonen. Das durfte doch jetzt wirklich nicht wahr sein.
»Er braucht medizinische Versorgung«, sagte der Arzt.
»Danke, dass Sie mir Bescheid gegeben haben«, sagte Ly. »Ich kümmere mich darum.«
Er legte auf und drückte die Nummer des Grenzers, aber dessen Telefon war noch immer ausgeschaltet. Ihm gefiel das alles gar nicht. Wäre er doch nur heute Morgen gleich im Krankenhaus vorbeigefahren.
»Müssen wir umkehren?«, fragte Huong.
»Tut mir leid«, sagte Ly.
»Ach, ist nicht so schlimm«, sagte Huong. »Ich wollte sowieso nachher noch eine Freundin treffen.«
Duc reagierte weniger gelassen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und hatte Tränen in den Augen. Huong fasste ihn am Arm. »Komm, wer schneller treten kann«, rief sie und sprang auf einen der vorderen Sitze. Schnell hatte Duc seinen Ärger vergessen. Mit lautem Gebrüll heizten sie sich gegenseitig an.
Die halbe Strecke hatten sie geschafft, als ein Ruck durch das Boot ging. Es schwankte, und Wasser schwappte über das Deck. Ly dachte zuerst, sie seien gegen einen unter der Wasseroberfläche liegenden Ast gestoßen, doch als Huong und Duc weiter traten, bewegte sich das Boot weder vor noch zurück.
»Ich glaub, die Kette ist gerissen«, sagte Huong.
»O je«, sagte Thuy,
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