Der letzte Tiger
raus«, rief Ly ins Funkgerät. Lam ging jetzt mit seiner Kamera direkt auf das Haus Nummer 21 zu. Der Lieferwagen setzte zurück. Und Ly konnte hören, wie unten eine Tür aufgezogen wurde. Der Wagen rangierte vor und zurück und fuhr rückwärts in den Hauseingang. So konnten sie da unten die Ladefläche unbeobachtet leer räumen.
»Welchen Jungen?«, kam die Rückfrage aus dem Funkgerät, und bevor Ly noch etwas erwidern konnte, sah er, wie vier der uniformierten Polizisten aus ihren Verstecken zwischen den Häusern sprangen und losrannten. Sie warenso laut, dass Lam sich erschrocken umsah. Mit erhobenen Händen sprang er in einen Hauseingang, die Kamera mit einer Hand über den Kopf hebend. Er ist aus der Schusslinie, dachte Ly erleichtert und suchte noch einmal die Gasse nach Huong ab, aber sie schien wirklich nicht da zu sein.
Der Polizist, der neben Ly und Tu gewartet hatte, war auf das Nachbardach geklettert und drückte den Fuß auf den Metalldeckel der Luke, die ins Haus führte, so dass sie von innen nicht zu öffnen war.
»Auf den Boden! Hände über die Köpfe!«, hörte Ly die Männer in der Gasse brüllen. Er lehnte sich noch weiter über die Dachkante. Sowohl der Fahrer als auch der Beifahrer des Lieferwagens lagen mit den Bäuchen auf dem Boden.
»Liegen bleiben. Nicht bewegen!«, schrie einer der Polizisten. Gleichzeitig traten er und seine Kollegen auf die Männer ein und schlugen mit ihren Schlagstöcken zu. »Verflucht!« Die sollten da unten verdammt noch mal die Lieferung überprüfen und Doktor Song aus dem Haus holen. Diese Lieferanten waren doch vollkommen unwichtig. Ly sprang auf und wollte gerade über die schmale Stiege an der Hauswand nach unten klettern, als er Schritte hinter sich hörte. Er fuhr herum und sah eine Gestalt auf dem Dach zwei Häuser hinter sich. Es war Doktor Song.
Normalerweise gab es keine Verbindungen zwischen den Häusern und Höfen. Aber sie hatten das in der Hektik am Nachmittag auch nicht mehr überprüft.
»Tu! Komm!«, schrie Ly und rannte Doktor Song hinterher. Er bückte sich unter Wäscheleinen und wich im Weg stehenden Blumentöpfen aus. Tu war dicht hinter ihm. Siesprangen von Dach zu Dach, die Abstände zwischen den Häusern waren kaum breiter als einen Meter. Aber auf einem Schrägdach rutschte Ly weg.
»Links«, rief Tu ihm zu.
Ly sah über seine Schulter und ließ sich seitlich auf das flache Dach eines angrenzenden, etwas niedrigeren Hauses fallen. Doktor Song sprang nur wenige Meter von ihm entfernt auf eine Hofmauer. Ly drückte sich vom Boden hoch und kletterte hinterher.
Der Arzt balancierte rennend, geschmeidig wie eine Katze. Ly war weniger geschickt, und der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer. Als er das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte, bückte er sich und ging auf allen vieren weiter. Er drehte sich nach Tu um, doch der hatte noch mehr Probleme, sich auf der Mauer zu halten. Lys Pistole, die er nur in seiner offenen Jackentasche verstaut hatte, fiel heraus. Er hörte sie unter sich auf den Boden aufschlagen. Zeit, sie zu holen, blieb ihm nicht. Doktor Song war am Ende der Mauer angelangt und sprang auf das Bahngelände.
Bis auch Ly sicher auf dem Schotter stand, hatte Doktor Song einen Vorsprung von rund hundert Metern. Ly rannte, seine Lunge pfiff. Die Verfolgung auf dem Dach hatte ihn vollkommen erschöpft. Er hörte Tu hinter sich, ließ ihn überholen und blieb stehen. Er rang nach Atem.
Doktor Song hielt auf die Waggons mit den Baumstämmen zu. Tu sprintete hinter ihm her. Er mochte kein guter Kletterer sein, aber er war schnell. Doch als er Doktor Song fast eingeholt hatte, blieb dieser abrupt stehen und warf sich mit voller Wucht gegen Tu. Tu strauchelte, fing sich jedoch wieder.
Mittlerweile waren die Männer vom Einsatztrupp auf dem Bahngelände angekommen. Ly sah sie vom anderen Ende des Brachlandes herüberkommen. Der Einsatzleiter schrie durch ein Megaphon: »Stehen bleiben! Wir schießen!«
Doktor Song rannte weiter, Tu war wieder dicht hinter ihm. Beide verschwanden zwischen den Waggons. Ein Schuss fiel und noch einer.
Was für Idioten!, dachte Ly. Diese Polizisten konnten Doktor Song doch gar nicht sehen.
Es dauerte. Dann tauchten Doktor Song und Tu vor der Lokomotive auf. Der Arzt schlug Haken, um seinen Verfolger abzuhängen. Aber Tu war schon zu nah. Er hatte seine Hand ausgestreckt, um ihn zu fassen. Gleich, dachte Ly. Gleich.
Wieder fiel ein Schuss. Er dröhnte in Lys Ohren. Für den
Weitere Kostenlose Bücher