Der letzte Tiger
Viertel, das fast so dicht bebaut war wie die Altstadt. Die Anwohner hatten den Ruf, grob und ungebildet zu sein, so wie es in Bahnhofsgegenden wohl üblich war.
Ly und Tu lagen auf dem Flachdach des Hauses, das an das Haus Nummer 21 angrenzte. Bei ihnen war ein kaum volljährigerPolizist, uniformiert und ausgerüstet mit Waffe, Handschellen und Schlagstock. Er schaute grimmig drein, lächelte aber doch, als Tu ihm von seinen Kaugummis anbot.
Das Haus, in dem sich Doktor Song aufhielt, war etwa einen Meter niedriger als das, auf dem sie lagen. Und während sie von Tontöpfen mit Bougainvilleen umgeben waren, war das Dach nebenan bis auf einen großen Wassertank leer. Hinter dem Haus gab es einen kleinen Hof, der hoch eingemauert war. Es konnte unmöglich jemand von außen hineinkommen, Doktor Song aber auch nicht über den Hof fliehen. Direkt hinter der Hofmauer fing das Gleisgelände an. Ein Brachland über zweihundert Meter Breite. Mehrere Gleise lagen dicht nebeneinander. Zwischen dem Schotter wuchs hohes Gras. Auf einem der Gleise stand ein Zug, dessen Waggons mit Baumstämmen beladen waren. Ly zählte fünfzehn Waggons. Auf dem Bahnsteiggleis dahinter füllte sich der Abendzug Richtung Ho-Chi-Minh-Stadt.
Von der Gasse hallten die Rufe der Händlerinnen herauf, die dort unten alles verkauften, was es sonst nur noch im Supermarkt gab. In den meisten anderen Vierteln waren solche provisorischen Straßenmärkte längst abgeschafft worden. Sie passten nicht zum Bild des modernen Hanoi, wie die Stadtregierung sich das vorstellte.
Ein Beamter von der mobilen Einsatztruppe hatte das Kommando. Ly kannte ihn nicht und hatte ihn auch vorhin nur kurz getroffen. Sein erster Eindruck von ihm hatte ihn allerdings etwas misstrauisch gemacht. Er schien nervös und gleichzeitig viel zu überzeugt von seinem Können. Lieber hätte Ly ein paar Männer der Spezialeinheithier gehabt, aber die hatte der Parteikommissar alle nach Na Cai geschickt. Und das, obwohl sie sich darauf geeinigt hatten, vorerst nur die Baronin festzunehmen und ihre Aussagen abzuwarten, bevor sie das halbe Dorf da oben verhafteten. Aber der Parteikommissar wollte nun einmal ein öffentlichkeitstaugliches Spektakel haben. Das war nicht zu ändern.
Ly hörte den Einsatzleiter leise die Positionen seiner Leute über Funk abfragen. Die Antworten kamen mit gedämpften Stimmen zurück.
Es wurde neun Uhr, zehn Uhr, elf Uhr. Unten in der Gasse war es still geworden. Der letzte Abendzug hatte den Bahnhof verlassen. Lan schickte eine SMS, dass sie jetzt mit der Einsatztruppe kurz vor Na Cai sei.
Tu, der bislang reglos neben ihm gelegen hatte, fing an, mit den Füßen zu wippen. »Hör auf, das nervt«, flüsterte Ly. Er war angespannt. Er ertrug diese Warterei nur schwer. Wenn er zumindest rauchen könnte. Aber das würde ihn verraten. Er beobachtete eine Kakerlake, die mit zitternden Fühlern in der Dachrinne hin und her lief. Ahnte Doktor Song doch etwas? Hatte er sie vielleicht längst entdeckt?
Ein Motorengeräusch ließ Ly aufhorchen. Er kroch näher an die Dachkante, um besser die Gasse einsehen zu können. Auch Tu rutschte weiter vor und schaute gebannt nach unten. Sehr langsam rollte ein Lieferwagen mit überdachter Ladefläche die Straße hinunter. Kurz darauf bog ein Geländemotorrad in die Gasse ein. Das Motorrad hielt in einiger Entfernung. Sein Motor lief aus. Dann wurden die Lichter ausgeschaltet.
Der Wagen fuhr weiter. Ly griff nach dem Fernglas. Vorneim Fahrerhäuschen saßen zwei Männer. So wie sie sich vorbeugten, schienen sie nach den Hausnummern Ausschau zu halten. Sie suchen das Lager, dachte Ly. Doch dann fuhren sie an der Nummer 21 vorbei.
Ly sah wieder hinüber zu dem Geländemotorrad. Der Motorradfahrer war mittlerweile abgestiegen und zu Fuß weitergegangen. Er hielt eine Kamera mit einem langen Teleobjektiv in den Händen.
Der Lieferwagen hatte angehalten. Einer der Männer war ausgestiegen. Er ging die Straße entlang und schaute an den Häusern hoch.
Wieder sah Ly zu dem Mann mit dem Fotoapparat. Jemand von der Presse, dachte er. Der Mann kam immer näher. Und dann erkannte Ly ihn. Es war Lam, der Tierschützer-Freund seiner Tochter. Was machte der hier? Hatte Huong vielleicht etwas über diese Lieferung mit angehört? Er hatte ihr ja auch gesagt, dass er heute einen Einsatz hatte. Lys Herz begann wild zu pochen. War sie auch hier? Mit den Augen suchte er die Gasse ab, konnte sie aber nirgends entdecken.
»Holt den Jungen da
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