Der letzte Tiger
Büro ließ Ly sich auf das Sofa fallen. Er zündete sich eine Thang Long an und sah dem aufsteigenden Qualm hinterher. Wie viele Jahre hatte Doktor Song sie alle so hintergangen und den bescheidenen Heilpraktikervorgetäuscht? Niemand hatte etwas geahnt. Und er hatte immer geglaubt, in Hanoi würde sich alles herumsprechen.
Doktor Song war regelmäßig nach Laos gereist. Da er immer geflogen war, hatte Lan die genauen Flugdaten über den Zentralcomputer des Grenzschutzes abrufen können. Wie sie an all die anderen Informationen, die sie innerhalb kürzester Zeit gesammelt hatte, gekommen war, war Ly wie sooft bei ihr ein Rätsel.
Bei seinen Aufenthalten in Laos hatte Doktor Song sich meistens im Hotelressort Nam Ngum in der Nähe von Vientiane eingebucht. Das Hotel hatte ein eigenes Casino, in dem er viel Geld verspielte – Dollarbeträge in sechsstelliger Höhe.
Seinen Tierhandel in Hanoi musste er über Jahre aufund ausgebaut haben. Seine Ehefrau war als Inhaberin eines Fünf-Sterne-Golfressorts in Mui Ne in Südvietnam eingetragen, der perfekte Ort, um Gelder zu waschen, wie Lan angemerkt hatte. Darüber, woher das Geld für den Erwerb des Ressorts stammte, hatte sie keine Nachweise gefunden. Das Geld kam also höchstwahrscheinlich aus den illegalen Quellen des Handels.
Neben seiner Ehe schien Doktor Song noch eine weitere feste Beziehung mit einer wesentlich jüngeren Frau zu haben. Sie betrieb eine der Luxusboutiquen hinter dem Hanoier Metropole-Hotel.
Mit beiden Frauen hatte Doktor Song je zwei Kinder. Alle vier gingen auf die Internationale Schule oben in der Villenresidenz Ciputra. Pro Kind beliefen sich die Schulgebühren, je nach Jahrgangsstufe, auf bis zu 22 925 Dollar jährlich. Unfassbar, dachte Ly. Und er tat sich schonschwer, die insgesamt 235 Dollar Schulgeld monatlich für seine beiden Kinder aufzubringen.
Ly dachte weiter darüber nach, was Lan vorhin vorgelesen hatte. Doktor Song hatte seine Flucht, so wie es schien, bereits gut vorbereitet. Ins arme Laos wollte er nicht fliehen. Vor rund zwei Wochen, in etwa zeitgleich mit Truongs Tod, hatte er für seine vier Kinder, die Frau, die Freundin und sich selbst Visa für die USA beantragt. Normalerweise hatte man mit so einem Antrag kaum Aussicht auf Erfolg. Aber Doktor Song hatte seine Visa über einen Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft in Ho-Chi-Minh-Stadt beantragt, der als hochgradig korrupt galt. Es ging das Gerücht, er verlange pro Visum zwischen 50 000 und 70 000 Dollar. Kein Wunder, dass der Arzt noch dringend Geld brauchte, bevor er aus Vietnam verschwand, dachte Ly und fand es in gewisser Weise beruhigend zu hören, dass auch amerikanische Staatsbedienstete und nicht nur seine eigenen Landsleute solche Gelder in die eigene Tasche steckten.
Das Telefon klingelte. Lan, die sich auf ihrem Schreibtischstuhl im Kreis gedreht hatte, seit sie vom Parteikommissar zurückgekommen waren, griff sofort zum Hörer und stellte auf laut. Aber es war nicht Tu, auf dessen Anruf sie warteten, sondern jemand vom Abhördienst. Der Anrufer teilte ihnen mit, dass sie leider noch kein Telefonat von Doktor Song hatten mitanhören können. Es gebe ein technisches Problem.
Lan knallte den Hörer auf. »Dumm wie die Hunde«, schimpfte sie. So etwas hörte Ly selten von ihr.
Wenig später klingelte wieder das Telefon. Diesmal wares Tu. Er hatte Doktor Song in ein Haus hinter dem Bahnhof folgen können. Es sei ein anscheinend unbewohntes Gebäude, das direkt an das Gleisgelände angrenzte. Seit etwa einer halben Stunde befinde Doktor Song sich im Haus. Es sei eben auch schon ein Cyclo vorgefahren und habe Brennholz und zwei große Töpfe angeliefert. Das könnten Utensilien sein, um Knochen einzukochen.
»Ich fahre raus zu Tu«, sagte Ly. »Und du übernimmst diese Jacky.« Sobald die Mittlerin von einer Festnahme Doktor Songs erfahren würde, wäre sie weg – falls sie überhaupt noch lebte. Immerhin waren mittlerweile einige tot, die über Doktor Song Bescheid gewusst hatten.
»Fahr ins Quan Ruou No. 1«, sagte er zu Lan. »Der Gastwirt heißt Quynh. Sag ihm, du kommst von mir und dass er diese Jacky unter irgendeinem Vorwand zu sich bestellen soll. Vielleicht schuldet er ihr ja noch Geld, das er ihr zusagen kann.«
»Und du meinst, er macht da mit?«, fragte Lan. Ihre Stimme klang ungewöhnlich matt, ihr fehlte der Optimismus, den sie sonst versprühte. Ly ahnte, dass es nicht wirklich an dem Fall lag, sondern an Tu. Hätte er bloß nichts über
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