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Der letzte Vorhang

Der letzte Vorhang

Titel: Der letzte Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Meyers
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hoch, spannte den Schirm auf und
marschierte auf die Ecke Broadway und Wall zu, der nächsten Haltestelle des
Lexington IRT und der Züge Nummer 4 und 5.
    »Du wirst mich doch hier nicht allein stehen
lassen!« rief Smith, während sie zwei gaffende Frauen, die Taschen von Odd-Job
— Ausverkauf mit Klasse — schleppten, mit ihrem feindseligsten Blick fixierte.
    »Und ob.« Wetzon ging weiter.
    Sie war schon halb an der nächsten Ecke, als sie
den Ruf hörte: »Warte!«
    Wetzon drehte sich um und sah ihre Partnerin rasch
näherkommen. »Ich möchte dich davon in Kenntnis setzen, daß ich es stets für
meine Lebensaufgabe gehalten habe, nie einen Fuß in dieses schwarze Loch zu
setzen«, jammerte Smith.
    »Es ist wirklich nicht so schlimm, wie du
denkst, Smith. Zumindest gibt es dort weniger Bettler.« Wetzon empfand ein
gewisses Maß an Mitleid. Vielleicht war sie die einzige, die verstand, daß ihre
bezaubernde Partnerin eine empfindsame Seele hatte, was selbst Smith nicht
bewußt war. Und wie oft Smith sie auch mit ihrem unverschämten Benehmen wütend
machte, Wetzon wußte immer, daß sich dahinter eine sonderbare Unsicherheit
verbarg.
    Sie stiegen eine neu gekachelte und einigermaßen
saubere Treppe hinunter, gingen durch die neuen Drehkreuze, welche die
Fahrgäste von den Marken zu den Magnetkarten umgewöhnen sollten, die von den
meisten New Yorkern mit ihrer chronischen Abneigung gegen Veränderungen sofort
zugunsten der verläßlichen Marken abgelehnt worden waren.
    Während ein Zug einfuhr, erreichten sie den
Bahnsteig, und als sich die Türen öffneten, drängte ein Menschenschwarm heraus.
»Komm!« schrie Wetzon durch den Lärm. Zwei Männer und eine Frau mit einem
Kinderwagen, in dem ein schreiendes, mit Schokolade verschmiertes Kind saß,
versperrten die Tür. Wetzon gab Smith einen Schubs und stieß sie in den Wagen.
    »Warum steht ihr in der Tür und laßt die Leute
nicht einsteigen?« beklagte sich Smith.
    »Sie spinnen wohl, blöde Ziege«, fauchte die
Frau mit dem Kinderwagen.
    »Um Himmels willen«, murmelte Smith.
    Wie es der Zufall wollte, war der Zug überfüllt.
Keine Sitzplätze und kaum Platz an den Stangen und Griffen zum Festhalten. Als
der Zug anruckte, fiel eine dicke Frau gegen Smith, wobei das Stück Pizza, das
sie aß, haarscharf an Smith’ Ärmel vorbeiflog.
    »Alles in Ordnung?« fragte Wetzon. Smith
wimmerte tatsächlich; sie sah wie betäubt aus. Ein Kulturschock.
    »Ich habe die Hölle gesehen«, keuchte sie. Und
das war alles, was sie bis zur 14. Straße sagte, als sich der Wagen leerte und
eine neue, noch aggressivere Gruppe hereindrängte. Die ganze Zeit hielt Smith
die Augen geschlossen und versuchte, sich so dünn wie möglich zu machen, um
nicht berührt, gestreift oder angerempelt zu werden. Es war aussichtslos.
    »Verehrte Damen und Herren«, sagte eine Stimme.
»Ich bitte Sie, barmherzig zu sein. Helfen Sie mir. Sehen Sie mein Kind. Wir
sind hungrig.« Der Mann war ausgemergelt und hatte einen gehetzten
Gesichtsausdruck. Er schob das Kind — ein erschreckend mageres kleines Mädchen
mit ängstlichen Augen — nach vorn. Das Kind hatte eine Schiene an einem Bein
und hielt einen Metallbecher für Münzen, der klapperte, als sie ihn schüttelte.
»Meine Frau ist im Krankenhaus, und ich habe meine Arbeit verloren. Ich will
nicht rauben und stehlen, aber ich werde es tun, wenn man mich dazu zwingt. Ich
bitte Sie, helfen Sie mir...«
    »O Gott«, sagte Smith. »Ich dachte, du hättest
gesagt...«
    Wetzon zuckte mit den Schultern und klammerte
sich an die Stange über ihr. Sie hätte ein Taschenbuch herausholen können — sie
hatte einen von Patricia Highsmith’ Ripley-Romanen in der Aktentasche — ,
glaubte aber, als Smith’ Massenverkehrsmittel-Mentor sollte sie lieber ihre
Freundin im Auge behalten. »Stell keinen Blickkontakt her«, murmelte. »Lies die
Anzeigen.« Ein Fehler. Die Anzeigen waren meist auf Spanisch und warben für
Kondome, Hämorrhoidenbehandlung und Drogenentzug.
    Das Kind wählte plötzlich Smith aus dem ganzen
Publikum aus und hielt ihr den Becher vor die Nase. Smith’ Miene wechselte in
Sekundenbruchteilen von Entsetzen zu Wut. »Mich legst du nicht rein«, sagte
Smith mit einem bösen Blick auf den Becher. »Das ist alles Theater.«
    Als das Kind in Tränen ausbrach, begannen
sämtliche Leute im Wagen zu zischen. Einen Augenblick später fuhr der Zug in
den Grand Central ein und beendete die Reise durch die Hölle.
     
    »Und Smith fühlte sich

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