Der letzte Vorhang
von dem hautnahen Kontakt
mit dem Pöbel so besudelt, daß sie nach Hause gehen mußte, um zu duschen und
sich umzuziehen.« Als Wetzon mit ihrem Bericht fertig war, lachte Laura Lee so
heftig, daß Tränen an ihren künstlichen Wimpern hingen.
»Xenia Smith in der U-Bahn. Was an diesem Bild
stimmt nicht?«
Sie saßen im Starbucks an der Ecke 87. und
Broadway, Laura Lee bei einer Milch und Wetzon bei einem koffeinfreien
doppelten Espresso. Ihre hohen Hocker standen direkt vor dem großen Fenster, so
daß sie die Passanten im Blick hatten. Es war erst halb sieben, hätte jedoch
genauso gut bereits Mitternacht sein können, so dunkel war es. Die Scheinwerfer
der vorbeifahrenden Autos und die Schaufenster am Broadway beleuchteten die
Bürgersteige und Straßen. Am Broadway, der Hauptstraße der Upper West Side,
herrschte am Abend genausoviel Betrieb wie tagsüber.
Zwei Aktentaschen und Laura Lees Geigenkasten
standen zu ihren Füßen. Laura Lees Musiklehrer wohnte an der Ecke 87. und Westend,
und so hatte es sich ergeben, daß sie und Wetzon sich jeden Mittwoch, wenn
Laura Lee zum Unterricht ging, hier trafen.
»Was deinen ehemaligen Kunden Rosenkind Luwisher
betrifft«, sagte Laura Lee, während sie mit den Händen durch ihr kurzes braunes,
mit goldenen Strähnchen durchsetztes Haar fuhr, »so geht es um Derivate. Sie
sind damit eingebrochen — mußten einen schweren Schlag einstecken.«
»Derivate? Was ist damit? Ich komme nicht ganz
mit.«
»Na ja, Schatz«, sagte Laura Lee, während sie
sich die Lippen mit einer Serviette abtupfte, »soviel ich gehört habe, bringt
das Journal morgen eine groß aufgemachte Geschichte darüber. Rosenkind
Luwisher muß einen Fonds in einer Größenordnung von dreihundert Millionen
abdecken...«
»Du lieber Gott.« Wetzon stellte ihre Tasse ab.
»Sie müssen auch Kunden entschädigen, die auf
die Investition hereingefallen sind, die sie als sicher angepriesen haben.
Kannst du dir vorstellen, daß man Leuten Derivate als sichere Investition
andreht?«
»Hm, nein, weil ich nie verstanden habe, was das
ist.«
Laura Lee grinste sie an. »Hör zu, Schatz, einer
hat einfach damit angefangen. Alles an der Wall Street fängt einfach an.
Derivate sind nichts anderes als Wertpapiere, die mit anderen Investitionen gekoppelt
werden, als würde man Pfandbriefe zusammenwerfen und im Paket verkaufen. Dann
werden die Leute, wie es so oft geschieht, kreativ. Sie mischen, heben ab und
teilen auf, werfen wieder zusammen — und verlieren dabei Unsummen. Dann wird
die Börsenaufsicht störrisch. Wie immer, wenn etwas als sicher Angepriesenes
schiefgeht.«
»Derivate werde ich nie begreifen, aber der Rest
ist völlig klar. Demnach geht es nicht um eine Umstrukturierung für das nächste
Jahrzehnt, vielmehr müssen sie einfach den Gürtel enger schnallen.«
»Irgendwo müssen sie die Kosten zurückfahren,
und so trifft es euch.«
»Klar. Wir stehen nur eine Sprosse über den
Filialleitern.« Wetzon trank ihren Espresso aus und schaute aus dem Fenster.
Ein kleines Mädchen strampelte auf einem kleinen Fahrrad mit Stützrädchen
vorbei. Sein Vater ging neben ihm mit einer großen Tasche von Citarella, einem
gehobenen Fisch- und Fleischmarkt am Broadway im Bereich der siebziger Straßen.
»Jetzt sieh dir das an. Nicht zu glauben.«
»Was?« Laura Lees Blick folgte Wetzons Finger,
der nach draußen zeigte.
»Das kleine Mädchen und sein Vater. Das waren
die zwei, die heute in der U-Bahn gebettelt haben — das arme Ding mit der
Beinschiene. Ich kann’s einfach nicht glauben... Und ich kann es nicht
ausstehen, wenn Smith das Schlimmste annimmt und hinterher recht hat. Und sie
waren wirklich gut, Laura Lee. Mich haben sie reingelegt.«
Laura Lee lachte. »Der Vater dieses Kindes ist
einfach ein Unternehmer mehr, Schatz. Die Welt ist voll von ihnen. An der Wall
Street haben wir doch auch gar nicht so wenige davon.« Sie trank ihre Milch
aus, hob die Aktentasche und den Geigenkasten auf und wartete auf Wetzon, die
Gebäck kaufte und sich ein halbes Pfund koffeinfreie Espressobohnen mahlen
ließ.
»Ein paar von der Sorte gibt es sogar am
Theater«, sagte Wetzon.
Als sie fünf Minuten später ihre Tür aufschloß,
saß Silvestri in T-Shirt und Jeans am Telefon und schrieb Notizen auf einen
Block, als wäre er schon den ganzen Tag dagewesen. Er winkte ihr mit einer
Flasche Beck’s zu, während sie ihren Mantel aufhängte. Izz hüpfte und tanzte,
als hätte sie Wetzon seit Jahren nicht gesehen.
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