Der letzte Vorhang
Sie streckte die Beine
vor sich aus und hob das eine langsam zur Nase.
»Möchtest du mir beim Abendessen davon
erzählen?«
»Gern. Und du kannst mir dann von Foxy und
Medora berichten.«
»Foxy?«
»So wird Phyllis von allen genannt. Warte, bis
du sie kennenlernst. Ich dürfte am späten Nachmittag zu Hause sein.« Sie nahm
ihren Mantel aus dem Schrank, küßte Silvestri und ging aus der Wohnung.
Während sie auf den Aufzug wartete, hörte sie
das Telefon läuten und ging wieder hinein. Silvestri hielt ihr den Hörer hin.
»Carlos«, sagte er.
Sie nahm ihm den Hörer ab. »Ja? Ich bin auf dem
Weg ins Studio.«
»Ich mußte es dir unbedingt sofort sagen. Mort
hat uns verschaukelt.«
»Überraschung, Überraschung.«
»Er sagt, der Vertrag enthält eine Klausel, nach
der Show Biz Shares einen Prozentsatz von jedem TV-Verkauf erhält, was
mindestens fünfundzwanzigtausend Dollar bedeutet, und Show Biz Shares hat
zugestimmt.«
»Und wenn wir uns zur Wehr setzen, verlieren
sie.«
»Genau. Hör zu, Häschen, was hältst du davon,
wenn wir unseren Anteil an Show Biz Shares abgeben?«
»Das läßt sich schon eher hören.«
»Das ist nur eines von den vielen Dingen, die
ich an dir liebe. Es geht dir nie ums Geld.«
»Soweit würde ich nicht gehen.«
»Nur eines muß ich dir noch sagen.«
»Das wäre?«
»Dies kann und wird nicht ungerächt bleiben.«
»Ich gehe mit dir bis ans Ende, Zorro.«
»Später, guapa.«
Die Probenstudios in der West 61. Street
befanden sich in einem alten Lagergebäude, wo offene Räume mit hohen Decken und
riesengroßen Fenstern sich zum Tanztraining geradezu anboten. Besonders
geeignete, strapazierfähige Holzböden waren gelegt, die Wände weiß getüncht
worden. Alles war nüchtern und praktisch: Umkleideräume, Beleuchtung, Dusche.
Die Luft war erfüllt vom eigenartigen Moschusduft, der die Tänzer beim Training
umgibt.
Das war es, was sie liebte. Betrat sie diese
Welt, veränderte sich alles an ihr. Der Gang war anders; sie wirkte größer. Ihr
Körper trat ein ins Zen.
Der Aufzug war überfüllt; unter Jacken und
Pullovern hervor ragten Beine, Beine, Beine, vielfarbig, lang und schlank.
Wetzons Zehen streckten sich unwillkürlich, ihr Fußrücken wölbte sich, und sie
fühlte, wie unerklärliche Leichtigkeit in ihr aufstieg.
Im dritten Stock erklang Klaviermusik aus einem
offenen Studio. Wetzon nahm den Kaffeebehälter in die andere Hand und blieb
stehen, um einer professionellen Ballettklasse zuzusehen, die von einer
eindrucksvollen Frau unterrichtet wurde. Ein Gebirge aus schwarzem, mit
Festiger geformten Haar machte ihre kleine Gestalt größer. Sie gab mit einem
Stock den Takt an.
Jemand sagte: »Entschuldigen Sie«, und Wetzon
trat beiseite, um Gelsey Kirkland vorbeizulassen.
Ha, längst über die besten Jahre hinaus und
tanzt noch immer, dachte sie. Laß dir das eine Lehre sein, Leslie Wetzon.
Sie öffnete die Tür zu dem kleineren Studio und sah
Carlos mit einem Behälter von Starbucks zwischen den ausgestreckten Beinen auf
dem Boden sitzen, den Rücken an die Wand gelehnt. Er unterhielt sich mit
jemandem, der mit dem Rücken zu Wetzon am Klavier saß.
»Häschen«, sagte Carlos. »Sieh mal, wer hier ist.«
Phyllis Reynard, in Theaterkreisen als Foxy
bekannt, drehte sich um und lächelte Wetzon an. Ihr Gesicht glich einer
Skulptur aus vollkommenen Linien, symmetrisch, scharf geschnitten, elegant.
Genaugenommen so elegant, daß der Name, bei dem jeder sie nannte, unpassend,
sogar beleidigend wirkte. Ein Kindheitsname, der hängengeblieben war. Ihr einst
schwarzes Haar war jetzt eisengrau und rahmte ihr Gesicht wie Gefieder. Als sie
Wetzon die Hand reichte, klingelten silberne Armbänder, ein Dutzend vielleicht.
Die Hand, die Wetzon nahm, war klein, aber
kräftig, mit langen, dünnen Fingern. »Foxy.« Sie küßten sich flüchtig auf die
Wangen. »Was für eine nette Überraschung.« Wetzon ließ ihre Umhängestasche und
den Beutel mit Stepschuhen und Handtuch auf den Boden fallen und stellte den
Kaffeebehälter auf das Studioklavier. Den Mantel hängte sie über die nächste
Barre.
Foxy trug eine schwarze Gabardinehose, einen
breiten Silbergürtel mit einem großen türkisfarbenen Stein und einen roten
Rollkragenpullover. Eine schwere schwarze Wolljacke, bestimmt nicht so eine,
wie man sie in einem Militärladen bekommt, lag über ihren Schultern.
»Ich habe sie entführt«, beantwortete Carlos die
unausgesprochene Frage Wetzons.
»Ja, und jetzt komme
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