Der letzte Vorhang
zur 44. Straße hin.
Am südlichen Ende der Shubert Alley lag das Shubert, wo noch immer Verrückt
nach dir lief, und am nördlichen Ende, an der 45. Straße, das Booth. Im
Booth trieben sich nicht viele Leute herum. Erste Voraufführungen waren immer
höchst fragwürdig, und deshalb versuchten die Regisseure, die Theaterexperten
vom Besuch abzuhalten. Um Himmels willen, es könnte ja durchsickern, die Show
sei in schlechtem Zustand. Und am Broadway bedeutete bereits ein geflüstertes
Wort dieser Art den Tod.
Wen man häufig dort antraf, das waren die Leute
vom Förderverein der Theater. Der Verein kaufte große Mengen von
Eintrittskarten mit starker Ermäßigung und verkaufte sie an seine Mitglieder
(als Mitglied zahlte man eine geringe jährliche Gebühr) etwa zur Hälfte des
Kassenpreises. Das alles wurde durch Zuschüsse der großen Stiftungen, des
Staates und der nationalen Kunstgremien finanziert. Diese Praxis diente als
eine Art Versicherung gegen leere Häuser, die schlecht für die Moral wie für
den Geldbeutel waren.
Dazu kamen die Freikarten: Oft wurden unverkaufte
Karten für Voraufführungen ebenso wie für Aufführungen nach der Premiere an die
Schauspielergewerkschaft abgegeben, die sie an ihre Mitglieder verteilte; auch
Krankenhäuser erhielten Karten für das Personal geschenkt.
Das Booth war an diesem Abend mit
Freikarteninhabern gut besetzt; Wetzon sah es, als sie zu ihrem Platz in den
hinteren Parkettreihen ging. Schauspielergewerkschaft. Obwohl sie dazu neigten,
an ungeeigneten Stellen zu lachen, waren Schauspieler normalerweise ein gutes
Publikum. Im Namen des Theaters verziehen sie vieles.
Sie schaute nach hinten, während die Besucher
allmählich die Plätze einnahmen. Stehplätze wurden für die Voraufführungen
selten öffentlich verkauft. Dort versammelten sich nämlich alle, die mit der
Produktion zu tun hatten, um die Show anzusehen und sich Notizen zu machen. Es
war nicht ungewöhnlich, den Autor, seine bessere Hälfte, Assistenten aller Art,
fast das ganze Regieteam dort vorzufinden, alle mit ihren Stenoblöcken vor sich
auf den Sims hinter der letzten Parkettreihe gestützt. Alle mit Ausnahme des
Regisseurs, der meist lieber irgendwo in den ersten zehn Reihen saß. Vorerst
hatte sich dort noch niemand eingefunden; sie schlüpfte aus dem Mantel und ließ
ihn um die Schultern liegen.
Es gab keinen Vorhang. Die Bühne für Tacoma
Triptych stellte ein Kunstmuseum dar. Das Stück war am Repertoiretheater in
Seattle ein großer Erfolg gewesen, war von dort ans Goodman nach Chicago
gegangen, und nun war es an den Broadway gekommen, ohne Garantie auf Erfolg.
Denn der Broadway war die Spitze, und ein Stück, das ein Publikum in Seattle
oder Chicago begeisterte, schaffte das in New York nur selten.
Tacoma Triptych wurde ohne Pause durchgespielt. Und das war gut
so, denn nur wenige wären zu einem zweiten Akt wiedergekommen. Das Stück war
ganz einfach ermüdend. Keinerlei Tempo, und manche darstellerischen Leistungen
waren dilettantisch. Freilich nicht die von Peter Koenig. Er beeindruckte in
einer Schlüsselrolle in den beiden ersten Dritteln des Stückes, danach gestand
der Typ, den er spielte, einen schrecklichen Mord ein und beging Selbstmord.
Es war eine bedrückende Szene, deren Stärke das
Publikum erstarren ließ. Dann trieb das Stück langsam seiner Schlußszene
entgegen, in der sich herausstellte, daß Peter den Mord gar nicht begangen,
sondern nur gestanden hatte, um seine Stieftochter zu schützen. Die wiederum
hatte nicht nur als Kind den ursprünglichen Mord begangen, sondern auch den
Selbstmord ihres Stiefvaters manipuliert.
In Wirklichkeit war das Ganze eine Oper ohne
Musik, obwohl das Gerücht ging, das Pulitzer-Komitee interessiere sich dafür.
Mit oder ohne Preis war es höchst fraglich, wie lange Tacoma Triptych in
New York laufen würde. Dennoch war eine solche Show eine hervorragende Bühne
für Darsteller wie Peter Koenig. Er würde sensationelle Kritiken bekommen, eine
Nominierung für den Tony, und Hollywood könnte aufmerksam werden. Die Leute
würden sich an seinen Auftritt erinnern, wenn die Show längst vergessen wäre.
Das heißt, falls Peter Terri nicht getötet
hatte. Dann würde sich niemand an seine Leistung in Tacoma Triptych erinnern. Oder in Wirklichkeit jeder, falls es seine letzte Rolle sein sollte.
Wetzon schlüpfte in den Mantel, als die Lichter
im Theater angingen und alle Darsteller auf die Bühne kamen, um sich für den
Beifall zu bedanken.
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