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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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schmerzten die Waden. Talulla zitterte. Als die Türen zufielen, war uns das Wageninnere ein ungeheurer Trost. Noch so ein Kernpunkt der Zivilisation: Man steigt in einen Wagen, schließt die Tür, ist umgeben von mit Technik vollgepacktem Vinyl und fährt, von einer Klimaanlage umsorgt, davon. Ich stopfte die Mülltüte (ein DNA -Rätsel, falls sie überhaupt jemand finden sollte) in den Müllcontainer einer Raststätte auf dem Weg nach San Francisco und tauschte die Nummernschilder auf einem menschenleeren Rastplatz aus. Zwei Stunden später hatten wir den Toyota in der Stadt wieder abgegeben und stiegen in einen Amtrak nach Chicago.
    Eine ganze Weile schwiegen wir. Talulla saß am Fenster und schaute hinaus. Die Sonne wärmte uns die Hände und Gesichter. Ihre Pupillen waren eng. Sie blinzelte langsam, so als würde jedes Aufeinandertreffen und Trennen der Augenlider eine eigene Portion Frieden auslösen. Ihr Körper strahlte Erschöpfung ab. Die sanfte Schaukelbewegung des Zuges durchfuhr uns wie ein Schlafmittel.
    Als Talulla sprach, hatte ich die Augen geschlossen.
    »Ich gewöhne mich daran«, sagte sie. Eine neutrale Aussage. Gewinn und Verlust glichen sich aus. Ihre Kehle war rau. Ich erwiderte nichts. Das erwartete sie auch nicht.
    Nach einer Weile legte sie ihren Kopf an meine Schulter, schloss die Augen und schlief ein.

Dritter Mond
Der grausamste Monat
    46 .
    Sechs Tage nach dem Mord an Drew Hillyard, nach zu vielen Zeitzonen und zu vielen Wetterumschwüngen, trafen wir in Ithaka ein.
    Nicht Ithaca, New York. Ithaka, Griechenland.
    Wir hatten, allerdings gegen meinen Willen, eine Nacht Halt in New York eingelegt. Nikolai hatte Talulla seit unserer Abreise in den Ohren gelegen, und sie bestand darauf, bei ihm vorbeizuschauen, bevor wir wieder verschwanden. Sie musste Frieden schließen zwischen ihrem Vater und der vielseitigen Alison, die zum zigsten Mal damit gedroht hatte zu kündigen, wenn Nikolai nicht aufhörte, sich einzumischen (es gab zwar keinen finanziellen Grund mehr, die Restaurants noch zu behalten, doch mal abgesehen von dem Problem zu erklären, woher plötzlich zwanzig Millionen Dollar stammten, wusste Talulla, dass das Unternehmen Gilaley für Nikolai ein Quell guter Erinnerungen war). Zumindest verbrachten wir nach den folterähnlichen Maßen der Liegen im Nachtzug eine Nacht in einem Hotelbett. Wir schliefen züchtig darin. Wie sich herausstellt, fährt Sex während des Fluchs die Libido auf null herunter, genau wie kein Sex während des Fluchs die Lust bis zum Anschlag aufdreht. Wir berührten uns mit geradezu geriatrischer Fürsorglichkeit. Von all den Erinnerungen an diese vollgestopften Wochen ist mir die eine besonders lebhaft im Gedächtnis geblieben: sich nach drei Nächten im Zug mit Talulla unter frische kalte Hotellaken zu legen, das Abtauchen in den Schlaf, so als würde man sich willentlich in den Tod stürzen, die letzten fassbaren Augenblicke gemeinsamen Bewusstseins – ist das Frieden? Das ist doch Frieden, oder, wenn man loslassen kann? –, diese Auflösung in der Dunkelheit, wie verglimmende Funken einer Rakete … Es gibt tiefen Schlaf, Schlaf von monumentaler Unschuld, und das war so eine Nacht. Wir erwachten in dem Gefühl, ganz frisch einer Gussform entstiegen zu sein. Wir wurden von einer Welle leichten Schwindels erfasst, auf der wir unseren zweiten Abgang aus New York machten.
    American Airlines nach Rom, dann Air Italia nach Kephalonia. Von dort mit dem Schiff nach Ithaka. Eine bescheidene Villa, hundert grob behauene Steintreppen hinauf, mit Blick auf die kleine Hafenstadt Konia, in der Nebensaison ein echtes Schnäppchen für 1200  Euro die Woche. Ich war vor dreißig Jahren einmal hier gewesen, nachdem ich eine gesunde junge französische Tanzschülerin gerissen hatte, die jenseits der Ägäis in Ephesus Urlaub gemacht hatte. Der Ort hatte sich auf irgendeiner unbewussten Ebene angeboten, fand ich, seit ich Talulla zum ersten Mal in Heathrow sah, und ich hatte diesen Aufenthalt schon geplant gehabt, bevor wir vor drei Wochen Manhattan verlassen hatten.
    »Und am Schluss der häusliche Frieden«, sagte Talulla. »Odysseus kehrt zu Heim und Herd und einer treuen Gattin zurück. Jedes Kind wäre darauf gekommen. Ich dachte, du bist gewitzt?«
    Nicht gewitzt. Dumm vor Glück. Glücklich vor Dummheit. Die völlige Umkehr des Jake Marlowe war vollzogen: Nerviges Wissen über mich selbst war gnädiger Selbstignoranz gewichen. Alle früheren Gewissheiten standen

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