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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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wieder zur Disposition. Der Stromkreis distanzierter Selbstanalyse war durchgebrannt. Ich war wieder in den blinden Strom der Dinge eingetaucht.
    Bei Lula lag die Sache anders. Ihr größeres Ich mochte vielleicht schon zur Akzeptanz vorangegangen sein, ihr kleines würde das wohl nicht ohne Kampf tun. Albträume schreckten sie auf, sie war schweißgebadet. Ängste packten sie und gaben sie erst nach einer Weile wieder frei. Sie sprach nicht darüber. Manchmal lag das ganze Gewicht ihrer Selbstverachtung in der Art verborgen, wie sie eine Zigarette hielt. Ich wachte voller Panik allein in dem weißen Schlafzimmer auf, suchte sie, fand sie in der leeren Badewanne liegend vor oder auf der Veranda, wie sie aufs Meer hinausstarrte, oder auf dem Terracottaboden in der Küche, die Arme um sich geschlungen. Diese Rituale waren notwendig, in beiderlei Wortsinn: unausweichlich, das Überleben sichernd. Lula wusste das, doch machte sie die Logik ihres eigenen Fortbestands krank. Das ist das Problem mit der Abscheu, hatte sie gesagt. Man gewöhnt sich daran.
    Eines Nachts fand ich sie – nachdem ich fast hysterisch geworden war, als ich sie nicht im Haus fand, nicht auf dem Balkon, nicht im Garten oder im Dorf – nackt und allein bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Ich zog mich aus, folgte ihr,
ffsch … ffsch
(sie warf kurz einen Blick zurück und erkannte mich), stand neben ihr. Der Strand war leer. Kühl, aber nicht kalt. Der Mondschein (zunehmend) lag in silbernen Blättern auf dem Wasser. Ich wusste, dass ich nicht ihre Hand nehmen, sie nicht berühren durfte. In diesem Zustand wollte sie so sehr berührt werden, wie eine Frau unter Wehen einen Zungenkuss will.
    »Als ich klein war, hat mir mein Dad die Geschichte von Lykaon erzählt«, erklärte sie. »Er machte immer großes Aufheben um die Acht-Jahres-Frist und die Tatsache, dass niemand je davon gehört hätte, dass einige der Wölfe wieder zu Menschen geworden seien.«
    Es gibt zwei Versionen des Mythos. In der einen bietet Lykaon während eines Banketts Zeus Menschenfleisch in einer Pastete an und wird dadurch bestraft, dass dieser ihn in einen Wolf verwandelt. In einer anderen beleidigt er Zeus dadurch, dass er ihm ein Kind auf dem Altar opfert, woraufhin nicht nur der König, sondern alle, die dort opfern, zu Wölfen werden – und erst dann zu menschlicher Gestalt zurückkehren, wenn sie es schaffen, acht Jahre lang kein Menschenfleisch zu fressen.
    »Wie lange hast du es geschafft?«, fragte Lula.
    »Vier Monde.«
    »Wie nah, glaubst du, würdest du an acht Jahre kommen?«
    »So nah wie an achttausend. Das weißt du doch. Es gibt kein Zurück.«
    Es dauerte einen Augenblick, bis sie einräumte: »Nein. Ich weiß.«
    Ich war ganz nervös vor drängender Männlichkeit, eine finstere Überbereitschaft, jedem und allem Gewalt antun zu wollen, der vielleicht den obszönen Hang hatte, ihr etwas antun zu wollen. Es war sehr schwer, nicht meine Hände auf sie zu legen, sie in die Arme zu nehmen, meinen Körper und meine Seele zwischen sie und alle nur denkbaren Gefahren zu stellen. Es war so ungeheuer schön, so wahnsinnig erleichternd, mich nicht mehr um mich selbst kümmern zu müssen. Nur um sie. Nur um sie.
    »Es wird immer so sein«, sagte sie. »Auf der Flucht. Über die Schulter schauen. Damit durchkommen. Was ist das eigentlich für ein widerlicher Satz? Damit durchkommen. Ich hatte übrigens nicht vor, mich zu ersäufen. Können wir überhaupt ertrinken?«
    »Ja. In beiderlei Form. Und verbrennen auch.« Die Wellen um unsere Beine erweckten die Illusion, wir würden schwanken.
    »Ich habe mir an dem Tag in New York mit Dad und Alison Stoffmuster angeschaut«, fuhr sie fort. »Wir gestalten das Restaurant auf der 28 th Street neu. Und drei Tage vorher habe ich mit dir geschlafen und meine Schnauze im aufgerissenen Kadaver eines Menschen vergraben.«
    Sie lachte kurz auf – nicht theatralisch, wie es viele andere wohl getan hätten, sondern weil das, was sie gesagt hatte, faktisch richtig war, gleichzeitig aber wie ein Satz aus einem komischen Kulthorrorfilm klang.
    »Ja«, bestätigte ich, »stimmt.« Ich wusste, warum sie das gesagt hatte. Die uneingestandenen Grausamkeiten töten einen von innen heraus.
Und was ist dieser Drang, die Wahrheit
zu sagen, wenn nicht ein moralischer Drang?
, hatte Jacqueline Delon gefragt. Sie hatte sich geirrt. Er ist überlebensnotwendig. Man kann nicht leben, wenn man nicht akzeptiert, was man ist, und man kann nicht

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