Der letzte Werwolf
seines Lebens einjagte. Der Snob in mir glaubt, er hat geschrien – wohl eher im Falsett
uaah!
gemacht –, weil er durch lebenslangen Fernseh- und Filmüberkonsum darauf konditioniert war. Eine Frau lässt dich sitzen, also gehst du in eine Bar und besäufst dich. Jemand schneidet dich auf dem Freeway, du brüllst: »Arschloch!« und zeigst ihm den Stinkefinger. Ein Werwolf taucht auf, du kreischst wie eine Sechsjährige. So lauten die Drehbücher. Jedenfalls machte er nicht nur
uaah!
, er warf auch noch beide Arme auf Kopfhöhe. Die Fernbedienung flog ihm aus der Hand, segelte durchs Zimmer, krachte gegen einen Sessel, und
America’s Next Top Model
leistete uns Gesellschaft. Vielleicht aus reinstem Überlebensinstinkt krallte er sich an seinem Handy fest. Ich streckte die Krallen aus, nahm es ihm ab und zerquetschte es vor seinen Augen in meiner Monsterpfote. Dieser Anblick entrang ihm ein nasales Stöhnen. Sein Gesicht verzog sich, so als wolle ein erwachsener Mann Babytränen vergießen, doch dem verzerrten Mund und dem Einatmen nach zu urteilen, war ein weiterer, lauterer Schrei im Anmarsch. Das können wir nicht zulassen, dachte ich. Das taten wir auch nicht. Talullas dunkle, liebenswerte langfingrige Hand kam von hinten und bedeckte die untere Hälfte von Drews Gesicht.
44 .
Sie erwarten eine gewisse Ordnung, eine Reihenfolge, Kategorien. Das verstehe ich. Doch das dreieinige Mysterium aus Vögeln, Töten, Fressen bringt Unterschiede zum Einsturz, wischt das ganze Instrumentarium beiseite, das
Dieses
von
Jenem
trennt, und führt mit dem transzendentalen Gegenstück eines lässigen Schulterzuckens zu einer
völlig neuen Form der Erfahrung.
Da war zum Beispiel tiefes Gras, vom Frost gehärtet, das unter unseren Füßen mit leisem Knirschen brach. Gras? Wo? Wir waren in seinem Wohnzimmer. Wir bewegten uns träge, zwei Geschöpfe, die von der Strömung des dunklen Wassers neben uns mitgerissen wurden, nicht Fluss, nicht Meer und ohne jedes Ufer. Die Sterne reichten bis zum Horizont und ruhten auf dem Wasser. Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht mehr daran erinnere, wie Talullas schwarze Daumenkralle ihm den Nacken aufriss, eine Mastoidalöffnung, ein Blutfächer, sein versiegeltes Schreien. Die Landschaft war nirgendwo und erstreckte sich aus dem Zimmer immer weiter fort. Teile davon lösten sich auf, brachen ab und enthüllten die Gottheit, der sie gehörte, nicht Gott, sondern einer seiner Aspekte, der große reine Geist des räuberischen Verhaltens, dem
wir
angehörten, von dem wir ein Fragment, eine Flamme in uns trugen wie ein Stück reinster Freude.
Wir sahen uns an, und alles wurde friedlich. Was nicht heißen soll, dass das weiße Ledersofa nicht blutverschmiert war, wo Drews Hand sich eifrig auf und ab bewegte, so als würde er winken oder etwas wegzuwischen versuchen.
Zwischen uns herrschte die gemeinsame Gewissheit von Eskalation, eine beschleunigte Version des Tickens von Achterbahnwagen, die den Anstieg zum tiefen Fall nehmen.
Du spürst es auch, oder?
Ja. Dazu Drews Leben in starken Bildern, wie die »Was bisher geschah«-Sequenz einer Seifenoper: Der große blondhaarige Kopf seiner Mutter, mit blauem Lidschatten und Kaffeeatem, die seinen Kinderwagen beschattet und zu ihm herabsinkt wie ein gütiger Planet. Der Schmerz seiner Finger, die sich nach den Klaviertasten strecken, die Tasten selbst Hinweise auf eine Zeit vor der Geburt. Eine dunkelhaarige Zwölfjährige, die sich auf die Lippen beißt, und dieses Gefühl wie Weihnachten und Geburtstag, als sich seine junge Hand unter den Gummizug ihres Schlüpfers schleicht, ihres Schlüpfers, ihres echten Schlüpfers. Rheingold, der sagt: »Du hast Talent, aber nicht das Zeug zum Star«, und er hatte recht. Ein eine Million Seiten starkes Buch voller Fernsehbilder, Cowboys, Lichtsäbel, Cola, Autorennen,
Friends
, die Zwillingstürme. Der Traum, in dem er glaubt, ans Ufer zu schwimmen, doch in Wahrheit handelte es sich um den Rand der flachen Welt vor Kolumbus, und plötzlich wird er dorthin gezogen, wo das Meer seine Wracks und Haie über den Rand in das schwarze leere Nichts ergießt, nicht mal Sterne, einfach nichts, und er wacht schweißgebadet auf, und die Escortdame lag auch nicht neben ihm, wie er sie angewiesen hatte, sondern saß im Fenster und schickte von ihrem Blackberry aus eine SMS . Und die Sache mit den Frauen war nur noch geschäftlich, vielleicht auch schon immer, sie taten so, als wollten sie Sex, dabei wollten sie immer
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