Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
Vom Netzwerk:
Weaver in
Alien
tauchten sie in den Achtzigern wieder auf, doch die blanke Mathematik von Gewicht zu Effizienz machte sich schnell bemerkbar; heute gelten sie als angeberisch. Jedenfalls trägt Russell ab und zu einen und wird deshalb von seinen Kollegen müde aufgezogen. Bei all dieser Ausrüstung, die meinem Schutz dient, sollte ich mich sicher fühlen. Das tue ich nicht.
    Draußen geht London seinen Geschäften nach wie ein geiler, degenerierter alter Mann. Ich sitze beim Schein des Kamins mit einem Macallan (zwei Flaschen sind von der Kiste mit zwölf Flaschen noch übrig) und einer Camel am Fenster, schaue dem Straßenverkehr zu – plötzliches Stoppen und Losstürmen, wie Blut durch eine Herzklappe –, beobachte das Treiben. Wie immer sind die meisten Menschen voller Energie, laufen schier über vor Kleinigkeiten, brodeln vor Ränken und Reue, Ängsten, Geheimnissen, Hunger, Sünden. Ab und zu auch vor Liebe. Ein sehr junges dunkelhaariges Paar tritt aus einem Delikatessengeschäft, nicht verträumt oder händchenhaltend oder sonstwie voneinander verzückt, sondern ins Gespräch vertieft und von dem gemeinsamen Reichtum, sich zu haben, schier strahlend. Mein verliebtes Herz spannte sich bei diesem Anblick. Verliebt. Ja, ich habe mich angesteckt. Tatsächlich, lieber Leser, bin ich vollkommen krank. Das Leben, das so breit grinst wie ein weißer Hai, freut sich an diesem Witz: Jahrelang hat er sich schrittweise auf den Tod vorbereitet, und nun ist das Leben alles, was er will. Na komm schon, Jake, da musst du doch selbst lachen.
    Kann ich nicht. Nicht solange mein verliebtes Herz Dauerdienst im Flehen hat und sich inwendig in jeder Lücke meiner Selbstablenkung hören lässt:
Bitte … Bitte …
Manchmal geht es auch genauer; bitte lass nicht zu, dass sie ihr was antun; bitte lass sie mich wiedersehen; bitte lass mich herausfinden, wo sie sie festhalten, aber dieses Flehen ist ein emotionales Ganzes, das größer ist als seine Teile, adressiert an den Gott, der abwesend ist, an das gnädig gleichgültige Universum, an den Geist der Geschichte, der heutzutage eine Schwäche für das böse Ende hat.
Bitte … Bitte … Bitte …
    Meine inneren Toten schlafen, sie schlafen schlecht, träumen von der Freiheit. Die Liebe hat die Macht, sie zu unterdrücken, wie sich herausstellt. Sie werfen sich hin und her. Ihr Murmeln wird lauter, droht, ins Wachsein überzugehen, verstummt wieder. Der harte Fluch der Liebe hält sie gerade eben noch in Schach. Arabellas Geist harrt in abgestumpftem Wachsein aus, weiß, dass etwas zu Ende gegangen ist. Ich wende mich immer wieder von ihr ab. Ich drehe mein Gesicht beiseite. Zum ersten Mal in einhundertsiebenundsechzig Jahren kommen mir einhundertsiebenundsechzig Jahre nicht wie gestern vor. Zum ersten Mal in all der Zeit ist die Gegenwart wichtiger als die Vergangenheit.
    Wie es scheint, habe ich in diesen dreizehn Tagen die Realzeit verlassen und bin in ein Zeitloch gefallen, in eine Schleife geraten, in der sich Sekunden ausdehnen und Minuten verbiegen und erst wieder ihre normale Form annehmen, wenn ich Talulla am Telefon höre.
     
    Das schien nur so. Bis vor ein paar Stunden. Da tauchte Ellis auf.
    Ich goss mir gerade einen Drink ein, als die Tür zur Bibliothek aufging und er hereinspazierte; er roch nach feuchtem London. Er hatte ein schmerzhaft aussehendes Gerstenkorn am linken Auge und trug zu viel Fettstift auf den Lippen. Sie sahen aus wie unheimlich echt wirkende Wachslippen. »Hätte nichts dagegen, Ihnen bei so einem Gesellschaft zu leisten, Jake«, sagte er und setzte sich in den Lehnsessel gegenüber vom Sofa, der ihn mit einem ledernen Seufzer aufnahm. »Es ist schrecklich da draußen.« Ich goss ihm einen Scotch ein, reichte ihm das Glas und unterdrückte eine Gänsehaut, als sich unsere Fingerspitzen auf dem Glas berührten. »Ach herrje«, sagte er nach einem Schluck und einem Schmatzen der Lippen. »Schon besser.«
    Der Drang, dem Mann Gewalt anzutun, war schier übermächtig, reflexhaft; ich – Talulla auf ihrer Pritsche, Augen im Schein des Fernsehers geweitet, sie versuchte durch die Wand, die Nacht, die ungezählten Meilen bis zu mir zu schauen – unterdrückte ihn. Ich legte einen weiteren Scheit ins Feuer, stocherte ein wenig ziellos in der Glut herum, setzte mich dann auf die Couch und sah ihn an. Gehorsam. Mit Gehorsam hältst du sie am Leben.
    »Okay«, meinte Ellis. »Instruktionen. In zwei Tagen, am Mittwochmorgen pünktlich um neun Uhr, rufen

Weitere Kostenlose Bücher