Der letzte Werwolf
Augenblick. Er hatte so müde ausgesehen. Diese Kratzer und das falsch geknöpfte Hemd.
Wir waren vielleicht zwanzig Minuten über eine schmale, gewundene Straße gefahren, die von beiden Seiten von Wald gesäumt wurde, als wir feststellen mussten, dass die Strecke durch einen Verkehrsunfall blockiert war. Ein stiller Krankenwagen mit Lichtern, die traurig in die Bäume blinkten, zwei Sanitäter, die einen behelmten Motorradfahrer am Boden festhielten, das Motorrad, das in der Nähe lag.
»Ähm …«, machte Poulsom. Er saß hinten bei mir und Dyson. Merritt saß hinterm Lenkrad.
»Wie unpassend«, meinte Dyson.
»Umkehren«, befahl Poulsom. »Sofort.«
Dann geschah alles sehr plötzlich. Es gab das kleine präzise Geräusch einer Kugel, die sauber das Panzerglas durchschlug – und nahezu gleichzeitig kippte Merritts Kopf gegen die Rückenlehne.
Daraus entwickelte sich ein wildes, traumhaft wirkendes Chaos: Poulsom, der seine Waffe aus dem Schulterhalfter zog, Dyson, der über uns beide hinweg zur Tür auf der dem Schuss abgewandten Seite zu klettern versuchte, ich, die ich – ganz wie im Traum wissend, dass es sinnlos war – versuchte, die Fesseln abzubekommen. Für irgendwelche Zuschauer hätten wir wohl ausgesehen wie die drei Stooges. Ich trug Dysons ganzes Körpergewicht – er stützte sich mit dem Stiefel an meinem Oberschenkel auf, als er sich zur Hintertür hinauswarf; dann war er draußen und eilte in den Schutz der Bäume.
Er schaffte es nicht. Ein kurzer Stoß automatischen Gewehrfeuers fällte ihn zwei Meter weiter. In der Stille, die darauf folgte, spürte ich, wie Poulsoms Körper neben mir aus Resignation alle Spannung verlor.
»Aussteigen, Poulsom, langsam«, sagte ein Mann. »Hände so, dass wir sie sehen können.« Ich sah an Merritts Leiche vorbei durch die Windschutzscheibe. Die Sanitäter und der Motorradfahrer standen nun neben dem offenen Heck des Rettungswagens, Gewehre in der Hand. Es hatte angefangen zu regnen.
»Also, Talulla«, sagte Poulsom leise. »Das geht wohl nicht gut aus für mich.« Er stieg aus. Ich blieb reglos sitzen. Eine große Wahl hatte ich nicht: In meiner weißen Gefängniszelle hatte ich mich frei bewegen können, für den Transport aber hatten sie mir Fesseln angelegt, wie man sie aus Guantanamo kennt, I-förmig mit aneinandergeketteten Handgelenken und Knöcheln, so dass man nur kleine Schritte machen konnte. An den Knöcheln noch ein Paar Fesseln, die mich an dem verschraubten Boden des Sitzes festketteten.
»Waffe fallen lassen«, befahl die Stimme Poulsom. »Auf den Boden, mit dem Gesicht nach unten, Hände hinter den Rücken. Jetzt.«
Ich sah nach links durch die offene Tür und beobachtete Poulsom, der gehorchte. Kaum hatte er seine Position eingenommen, tauchte ein athletischer Kerl in schwarzem Kampfanzug aus der Dunkelheit hinter den Bäumen auf. Der Ausrüstung nach zu urteilen ein WOKOP -Jäger, mit dunklem Bürstenschnitt und schwerlidrigen Augen. Er kniete auf Poulsoms Nacken, während er ihm Handschellen anlegte, dann half er ihm vorsichtig auf die Füße.
»Miss?«
Ich erschrak. Der Motorradfahrer – er hatte den Helm abgenommen, und darunter war ein junges, fröhliches Gesicht mit Ziegenbärtchen und einem silbernen Ohrstecker aufgetaucht – stand an der offenen Tür rechts von mir und hielt einen schweren Seitenschneider in der Hand. Kalte, feuchte Luft fuhr mir über Gesicht und Hals. Ich war plötzlich sehr durstig.
»Keine Angst«, sagte der Kerl. »Ich mache nur Ihre Füße los. Entschuldigung.« Er beugte sich vor und schnitt ohne jede Anstrengung das Kabel durch, mit dem meine Knöchelfesseln am Sitz festgemacht worden waren. »Die anderen muss ich im Augenblick noch dranlassen«, fuhr er fort. »Wenn Sie meinen Arm nehmen, kann ich Ihnen heraushelfen. Genau so.«
Trotz des Adrenalinschubs und der wirren Gedanken (steckte Jake dahinter? Wurde ich befreit?) war es gut, nach den Stunden engen Sitzens im Wagen wieder zu stehen. Ich reckte mein Gesicht in den Regen. Die Nachtluft war köstlich, roch nach feuchtem Wald, dazwischen der Geruch von feuchtem Asphalt, Cordit, Diesel und der verführerische Gestank des Motorradleders. So kurz vor einer Verwandlung durchfährt mich der Hunger in Wellen, die mir fast alle Kraft aus den Beinen reißen. Ich wankte, stürzte beinahe. Die Welle verebbte. Wir standen unter einer dichten Wolkendecke, doch der Mond wusste, dass ich hier war. Ich spürte ihn am Gaumen, in den Zähnen, meinen
Weitere Kostenlose Bücher