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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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Universum mitgespielt: Eine der weiblichen Wachen hatte mir vorher an dem Ort, wo man mich festhält – dem ›weißen Gefängnis‹, wie ich es nannte –, eine Papiertüte mit Kosmetika zugeschoben. Eyeliner, Mascara, Lipgloss, Lidschatten, Rouge. »Sie sehen ja Ihren Freund heute Nacht, wie ich weiß«, hatte sie gesagt. »Verraten Sie nur nicht, woher Sie das haben.« Es war ihr peinlich gewesen. Komisch nur, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt absolut steinhart gewesen war. Mein Spitzname für sie war ›Harter Brocken‹ gewesen. Ich war so überrascht, dass ich nichts darauf sagen konnte. Hinterher, auf meiner Pritsche, musste ich weinen. Ich habe irgendwo gelesen, als Kind bringen einen die Grausamkeiten der anderen zum Weinen, als Erwachsener deren Freundlichkeiten. Mir war bis zu diesem Augenblick nicht klar gewesen, dass ich alles Anrecht auf Freundlichkeit hatte fahren lassen. Und als ich dann Jake sah, der so offensichtlich mit den Nerven am Ende war, so vollkommen allein wirkte, da hatte sich das Make-up auf meinem Gesicht so billig angefühlt wie die Geste eines dummen Mädchens (das Mädchen ist noch immer hier drin und watet hüfttief im Blut und in den Eingeweiden der Opfer des Ungeheuers. Da draußen gibt es vielleicht etwas, das das Mädchen töten könnte, aber wenn, dann kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, was).
Alles in Ordnung? Mir geht es gut. Und dir? Auch.
Wochenlanges Warten, und wenn der Augenblick gekommen ist, tauscht man nur die plattesten Worte. Seine Nähe tat weh, in Herz, Kopf, Brüsten, Unterleib schien die Wölfin zu versuchen, sich zu befreien. Erinnerungen an unsere gemeinsame Jagd in Kalifornien öffneten mich wie die Wärme eines starken Schnapses, es fing in der Brust an und eilte hinaus, eine heimliche Ekstase in Händen, Zähnen und Kopfhaut. Vorsicht, meinte Poulsom, Sie tun sich noch weh. An den Handschellen, meinte er. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich an ihnen zerrte.
    Ich wünschte, ich könnte jetzt sofort zu dir.
    Himmel, Lu, ich –
    Dreißig Sekunden hatten sie uns versprochen. Es kam mir vor wie drei Sekunden. Ein Wimpernschlag. Ein Vorbeihuschen. Ein Scherz auf Kosten der Liebe. Dann fuhr das Auto davon, ich verdrehte den Kopf, um durchs Heckfenster zu schauen, Jake im erleuchteten Fenster wurde immer kleiner. Kleiner. Weg. Ein Gefühl wie am ersten Schultag, ein hohler Ball im Bauch, weil meine Mutter mich weinen sah, sich aber trotzdem umgedreht hatte und zum Auto gegangen war, zu dem silbernen Volvo, den ich hinterher nicht mehr leiden konnte. Man lernt schon früh, dass Verlust etwas Grundsätzliches ist. Und dann verbringt man den Rest des Lebens damit, das wieder zu vergessen.
    Jake schreibt, er habe aufgehört zu abstrahieren. Sieht so aus, als ob das bei mir auch anfängt. Es fällt mir nicht leicht, das hier aufzuschreiben. Seit Unitagen habe ich kein Tagebuch mehr geführt. Damals führten wir alle eins, Meilen um Meilen Jungmädchenhandschrift wie Stacheldraht, der Vollzeitjob der Selbstdramatisierung.
Es ist mir egal, was er sagt. Dieser Mistkerl hat mich zum
ALLERLETZTEN MAL
rumgekriegt!
    Ich ging davon aus, dass sie mich von Caernarfon zurück ins weiße Gefängnis bringen würden (sie, das waren Poulsom und zwei Wachen, Merritt und Dyson), wo immer zum Teufel auch das weiße Gefängnis war. Ich wusste, wir waren in Wales, aber das war auch schon alles. Meine Kenntnisse in europäischer Geographie bestanden aus dem üblichen amerikanischen Durcheinander, und die Orte, deren Namen ich unterwegs aufgeschnappt hatte – Llandovery, Rhayader, Dolgellau – hätten meinetwegen auch in Alice’ Wunderland sein können. Kopfschmerzen bereitete mir allerdings seit dem Augenblick der Entführung, dass ich etwas unternehmen musste und dass ich nichts unternehmen konnte. Ich hatte ihnen nicht abgekauft, dass ich freikommen würde, wenn Grainer tot sei, Jake auch nicht, aber es hatte keine andere Wahl gegeben, als mitzuspielen. Die rationierten Telefonminuten hatten Jakes Botschaft in den Pausen zwischen den Wörtern transportiert: abwarten. Ich hole dich. In guten Augenblicken war das so, als hätte ich einen mächtigen Talisman in der Tasche. In schlechten Augenblicken war das wie eine Stimme (genauer gesagt, die von Tante Sylvia, jenem Miststück, das auf meinen Kindheitsoptimismus fiel wie saurer Regen), die immer wieder sagt: Er kommt nicht, du dummes kleines Mädchen, du bist tot. Und nachdem ich ihn gesehen hatte, war es ein schlechter

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