Der letzte Werwolf
hingen lebensgroße Porträts, Damen mit Frisuren und Kleidern aus ganz verschiedenen Epochen, doch hatten sie eine auffällige Gemeinsamkeit: Jede von ihnen trug einen kleinen Silberdolch.
„Madame grand-mère“, sagte Dorian plötzlich und schritt wie eine Marionette auf eines der Ölbilder zu. Phil und Valentina kamen ihm nach.
Eine alte Dame mit ebenmäßigen Zügen, deren Schönheit die Jahre nichts hatten anhaben können, wies mit der Rechten auf die ziselierte Dolchscheide an ihrem Gürtel. Der Blick ihrer traurigen Augen schien auf Dorian gerichtet zu sein, der fassungslos zu ihr hochsah.
„Willkommen bei Madame Céline!“ Eine weibliche Stimme ließ die drei zusammenfahren. Hinter einem dunklen Schreibtisch, dessen gewaltiges Gewicht auf vier geschnitzten Löwenpranken ruhte, erhob sich eine grazile Frau, deren schneeweißes Haar wie ein Heiligenschein um ihren Kopf stand. „Ihr habt also den Weg hierher gefunden.“ Mit einem Lächeln wies sie auf drei Polsterstühle.
Stumm vor Ehrfurcht folgten sie der Einladung. Selbst Dorian beschränkte sich auf eine verhaltene Verbeugung.
Valentina betrachtete die Frau, die sich nun ebenfalls wieder niederließ. Wie alt mochte sie sein? Das weiße Haar wollte zu dem Gesicht, das kaum Spuren der Vergänglichkeit aufwies, nicht recht passen. Ihre Kleidung, eine bestickte Tunika aus glänzendem rotem Stoff erinnerte sie an Fotos aus Isoldes Hippiezeit. Wie die Frauen auf den Gemälden trug sie in einer silbernen Scheide einen kleinen Dolch am Gürtel, dessen Schaft wie Lilienblätter gearbeitet war. Wer war sie, was hatte sie mit dem Diana-Orden zu tun?
Die dunklen Augen ihrer rätselhaften Gastgeberin wanderten von einem zu anderen. „Ihr seid gekommen, weil ihr Rat sucht, denn euch sind Dinge begegnet, die ihr nicht deuten könnt.“ Ihre samtene Stimme gab Valentina Mut.
„Wir haben die Aufzeichnungen von Margareta von Treuenstein gefunden“, sagte sie leise. „Aber wir haben keine Ahnung, was wir nun tun sollen.“
Madame Céline nickte. „Die Frauen der Gemeinschaft, die bis heute im Geheimen wirkt, haben sich dem letzten Wunsch Amalias angenommen. Wir ihr ja wisst, ist sie die Tochter von Margareta von Treuenstein.“ Sie nickte zu dem Bildnis, das ihre Besucher eben noch so in seinen Bann gezogen hatte. „Margareta von Treuenstein war eine angesehene Schwester unseres Ordens, und somit steht auch ihre Familie unter dem lunaren Schutz der Göttin, der Königin der dunklen Nacht, der Herrscherin über den Mond und die Gestirne.“ Sie senkte den Kopf zu einer angedeuteten Verbeugung, dann fuhr sie fort: „So fand der Orden seinerzeit einen Weg, den Fluch aufzuheben, der Amalias Sohn dazu zwingt, sich in Vollmondnächten in einen weißen Wolf zu verwandeln. Doch lag diese Lösung damals noch in ferner Zukunft.“
Dorian, der bis jetzt ganz in sich versunken zugehört hatte, richtete sich unvermittelt auf.
„Der Fluch!“, stieß er hervor. „Verzeiht Madame, ich suche Antwort auf die eine Frage, die mein Herz beschwert und die mich keine Ruhe finden lässt …“ Er ballte die Faust, aus seiner Stimme klang ohnmächtige Wut, die er kaum zurückhalten konnte. „ Wessenthalben? Wessenthalben musste alles so geschehen? Was ist die Ursache des bösen Bannes, der mich zum Wolfe werden lässt, alsbald der volle Mond über den Himmel wandert, so wie es meinem armen Vater schon geschah? Was ist die Schuld, die ich zu tragen habe?“
Die weißhaarige Frau mit dem jugendlichen Gesicht hatte Dorians Gefühlsausbruch, der Valentina durch und durch gegangen war, mit großer Anteilnahme abgewartet. Jetzt nickte sie ernst. „Ich werde euch berichten, was dem Orden davon bekannt ist.“
Leise und eindringlich begann sie eine Geschichte zu erzählen, die ihren Zuhörern das Blut in den Adern gerinnen ließ. Die Geschichte des russischen Grafen Wolko Wladimirowitsch Wolkonov, Dorians Ahn, einem genusssüchtigen, skrupellosen Landesherrn, der die Pracht am Zarenhof noch übertrumpfen wollte. Um seinen ausschweifenden Lebensstil zu finanzieren, presste er seinen Untertanen so hohe Steuern ab, dass sie auch in guten Erntejahren kaum genug zum Überleben hatten. Wer sich weigerte zu zahlen oder nicht zahlen konnte, wurde in den Schuldturm geworfen, aus dem keiner lebend herauskam. So wagten es die Leute nicht, gegen den Landesherrn aufzustehen, und man gab dem verhassten Grafen, was seine unmenschliche Gier verlangte.
Während sie erzählte, verdüsterten sich
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