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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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besoffen.«
    Weynfeldt schüttelte lächelnd den Kopf. »Den kenne ich.«
    »Und? Haben wir einen Vallotton?«
    »Wenn wir einen haben, bist du die Erste, die es erfährt.«
    Zwei Stunden beschäftigte er sich in seinem Büro. Um fünf verabschiedete er sich von Véronique. Die Schachtel mit den Luxemburgerli lag zwischen den beiden Bildschirmen. Sie war leer.
    Er hatte wohl auf den falschen Knopf gedrückt. Der Aufzug, dessen Türflügel sich öffneten, besaß die Größe eines Zimmers. Er betrat es und drückte auf Etage sechs.
    In der zweiten hielt der Lift, die Tür öffnete sich, und ein blaugekleideter Spitalangestellter schob ein Bett herein. Weynfeldt drückte sich gegen die Wand. Im Bett lag, hohläugig und apathisch, ein etwa dreißigjähriger Mann.
    »Für Besucher ist normalerweise der«, sagte der Angestellte und deutete hinter sich. Der Patient schenkte Weynfeldt keine Beachtung.
    Die Tür schloss sich, der Aufzug setzte sich in Bewegung. Am Kopfende des Bettes saß ein gelber, abgegriffener Teddybär, genauso teilnahmslos wie sein Besitzer.
    Der Aufzug hielt nach einer Etage erneut, der Angestellte fuhr das Bett wieder hinaus. Die Tür ging zu, der Lift fuhr weiter. Weynfeldt wünschte, er hätte den gelben Teddy nicht gesehen.
    Vor dem Zimmer 612 wurde er von Mereth Widler erwartet. Die Pforte hatte sie von Weynfeldts Besuch unterrichtet. Von weitem war sie immer noch ganz Porzellandame, aber aus der Nähe sah Adrian, dass sie den Lippenstift für ihn ohne Spiegel, eilig und mit unsicherer Hand nachgezogen hatte. Ihre Augen waren müde, und ihre Frisur hatte etwas Schlagseite. Aber sie wusste, was sie ihrem Ruf schuldig war, umarmte ihn und raunte: »Ich warne dich: Er sieht aus wie gekotzt.«
    Doktor Widler lag im Bett, als sei er nicht dessen Inhalt, sondern Teil davon. Seine Haut, seine Haare, sein Nachthemd waren Ton in Ton mit der Bettwäsche, die ihn umgab.
    Bei Adrians Eintreten hatte er die Augen in seine Richtung gewandt, die Andeutung eines Lächelns gezeigt, die Rechte gehoben, den Daumen nach unten gedreht und die Hand auf das Federbett fallen lassen wie einen Gegenstand, der nichts mit ihm zu tun hatte.
    Weynfeldt hob sie von dort auf, drückte sie und legte sie vorsichtig wieder zurück. Er überreichte Mereth die Schachtel Pralinen aus der gleichen Confiserie wie Véroniques Luxemburgerli. »Ich wusste nicht…«, sagte er, »aber falls nicht, wird sie Mereth bestimmt…«
    Der alte Doktor deutete mit den Augen auf den mit grünem Plastik überzogenen Chromstahlstuhl neben sich. Der klassische Krankenhausbesucherstuhl mit verstellbarer Lehne, auf dem er schon neben dem Krankenlager seines Vaters und zwanzig Jahre später neben dem seiner Mutter gesessen hatte. Weynfeldt nahm sich vor, dessen Designer ausfindig zu machen und ein Exemplar vielleicht eines Tages in seine Sammlung einzugliedern.
    Weynfeldt bot den Sessel Widlers Frau an. Erst als diese kategorisch ablehnte, setzte er sich. Im Zimmer roch es nach Blumen und Desinfektionsmittel und Krankheit. Ein Infusionsschlauch endete in der Beuge von Widlers dünnem, sehnigem, mit weißem Pelz bewachsenen linken Arm. Zwei Plastikschläuchlein führten aus seinen Nasenlöchern. Von unter der Decke kamen weitere Schläuche, deren Ziel und Herkunft Weynfeldt zu ignorieren wusste.
    Der Doktor wollte etwas sagen. Seine Lippen begannen einen Buchstaben, eine Silbe, vielleicht ein Wort zu bilden. Seine ganze Mimik schien den Lippen bei diesem schwierigen Unterfangen beistehen zu wollen. Aber als Adrian dachte, jetzt, jetzt wird es dann gleich gelingen, hob Widler wieder die Rechte, winkte ab und ließ sie aus der gleichen Bewegung heraus wieder auf die Decke fallen.
    Weynfeldt nickte, als hätte er verstanden, was der Kranke sagen wollte. Dann begann er, vom Wochenende in St. Moritz zu erzählen, die Grüße auszurichten, die Resultate und die Rennverläufe so gut er sich erinnerte zu reportieren.
    Nach ein paar Minuten schon war Doktor Widler eingeschlafen. Weynfeldt schwieg und betrachtete das weiße eingefallene Gesicht. Er war gar nicht so alt, wie er schien. Keine achtzig. Über zwanzig Jahre jünger als seine Mutter. Weynfeldt erinnerte sich, dass sie damals über ihren neuen Arzt sagte: »Dann erst bist du richtig alt, wenn deine Ärzte jünger sind als du.«
    Mereth bedeutete ihm, er könne jetzt getrost gehen. Mit einem dankenden Kopfnicken und der Nachsicht, mit der das Alter die Jugend in ihre Vergnügungen entlässt.
    Weynfeldt warf

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