Der letzte Winter
Bewegte Bilder, auf denen sich nichts bewegte, nur das Bild selber. Doch es war kein Stummfilm. Er hörte Geräusche, jemand nahm sie mit einem Mikrofon auf. Dadurch wirkte alles, was er sah, noch unheimlicher in seiner Banalität. Altes, gewohntes Leben. Was waren das für Geräusche? Er konzentrierte sich. Ein leises Säuseln, auf dem anderen Film hatte er nichts gehört. Ein Rauschen, ein Säuseln. Es konnte Straßenverkehr sein. Die Kamera bewegte sich weiter. Wieder das Bett, das andere Bett, die anderen Konturen, zwei Gestalten in dem Bett, derselbe Kamerawinkel, keine Gesichter, keine Bewegung. Schlaf. Man nannte es Schlaf. In dem Film vorher hatte er Madeleine und Martin schlafen sehen, und jetzt sah er Gloria und Erik. Wenn sie es sind. Natürlich sind sie es. Sie sind zu Hause. Sie schlafen, und sie schlafen sehr tief. Allzu tief. In ihrem Zimmer konnte jeder wer weiß was anstellen. Jeder. Wer weiß was. Etwas rührte sich unter der Decke, vielleicht ein Arm. Jetzt bewegte sich auch die andere Gestalt. Ein Bein, ein Fuß. Beide Menschen in diesem Film lebten. Und genau das sollte er sehen. Vorher . Die Kamera schwenkte wieder durch das Zimmer, schau her, hier , so sieht es im Augenblick aus, siehst du, dass es ein bisschen unordentlich ist, siehst du das? Nicht schlimm, aber trotzdem. So darf es nicht sein. Das müssen wir richten. In diesem Zimmer muss einiges gerichtet werden. Die Kamera kehrte zu dem Paar im Bett zurück. Jetzt hörte er die ruhigen Atemzüge Schlafender, ein Säuseln, ein Rauschen, aber nicht das gleiche, das er vorher gehört hatte, das Geräusch, das aus einer anderen Richtung gekommen sein musste. Und plötzlich schlug eine Uhr, eine Wanduhr oder Kirchturmuhr, nein, eine Wanduhr, dong-dong-dong-dong, er wusste nicht, wie viele Schläge, da er nicht von Anfang an mitgezählt hatte. Jetzt verstummten sie, die Stundenschläge einer weiteren Nacht, eines Tages, in dem Film gab es sie, und er konnte ihn mehrmals anschauen, er würde ihn mehr als dreihundertfünfundsechzig Mal ansehen, vielleicht noch öfter, bis er etwas begriff, bis er etwas daraus lernte, es wurde schwarz um ihn und er sah nichts mehr. Er hörte ein Geräusch hinter sich und zuckte zusammen.
»Oje.«
Er hörte Angelas Stimme und drehte sich um. Sein Körper schmerzte, der Nacken, die Schultern, Schmerzen im Rücken, im Hinterkopf, als würde er sich zum ersten Mal nach langer Zeit strecken. Ihm wurde bewusst, wie angespannt, wie furchtbar konzentriert er gewesen war. So etwas hatte er noch nie erlebt. Für alles gab es ein erstes Mal. Der Abgrund ist viel tiefer, als du denkst.
Er sah Angela auf sich zukommen. Die Tür hinter ihr stand offen und ließ warmes Licht, wunderbares Licht herein. Er spürte, wie es ihn wärmte, und merkte erst jetzt, dass er fror. Er drehte sich um und stellte den Film mit der Fernbedienung ab. Das Schwarz auf dem Bildschirm bewegte sich nicht mehr. Er drehte sich wieder um, hörte die Stimmen aus der Wohnung, die Stimmen der Mädchen, Elsas Gerenne. Von Lilly war nichts zu hören. Vielleicht war sie nach dem aufregendsten Tag ihres Lebens kollabiert. Er wusste nicht, wie lange er sich im Schlafzimmer aufgehalten hatte, es konnten Stunden vergangen sein. Oder Sekunden.
»Was ist es?«, fragte Angela. »Worum geht es?«
»Das willst du lieber nicht wissen«, antwortete er.
»Herrgott, Erik. Hier? Musst du dich ausgerechnet jetzt damit beschäftigen?«
Sie hielt etwas in der Hand, ein Glas, das im warmen Licht glänzte. Der Inhalt des Glases hatte die gleiche wunderbare Farbe wie das Licht.
»Ich dachte, den hast du jetzt nötig«, sagte sie und hielt ihm den Whisky hin. »Aber du solltest nicht hier sitzen.«
»Du hättest Ärztin werden sollen.« Er hob das Glas an die Lippen und nahm einen Schluck. 78 Ardbeg, cask. Das Einzige, was jetzt half. Sie wusste es.
»Was willst du tun, Erik?«
Er antwortete nicht, spürte augenblicklich die medizinische Wirkung des Alkohols in seinem Körper. Die Starre löste sich. Er konnte den Nacken wieder bewegen.
»Was ist das?«, fragte sie. »Was siehst du dir da an?«
»Jemand hat die Schlafzimmer gefilmt. Beide Tatorte.«
»Wann?«
»Wann was?«
»Wann wurden sie gefilmt?«
»Vor den Morden.«
»Das darf nicht wahr sein.«
Er schwieg. Sie starrte auf den Bildschirm. Er wusste, was ihr durch den Kopf ging. Genau wie sie dachte er mehrere Gedanken gleichzeitig. Er saß nicht in seinem Büro. Er saß hier , es geschah hier . Es war bei
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