Der letzte Winter
dem Zimmer kommen, in dem er sich befand, aus der Wohnung, ein Geräusch, das zu seiner Familie gehörte, zu allem, was normal und schön war. Aber das Geräusch kam vom Fernseher, von dem Bildschirm, dem Film. Er lauschte. Es war eine Art Schnarchen. Eine der Gestalten im Bett bewegte sich! Er konnte noch immer kein Gesicht sehen. Die Person rutschte tiefer unter die Decke und lag wieder still. Auch die Kamera stand still. Winter sah die beiden Nachttische, einige Bücher in normaler Unordnung. Die Kamera bewegte sich weiter, weg vom Bett, erfasste dann das ganze Zimmer mit Weitwinkel, wie um zu zeigen, welche Art Zimmer es war, aber Winter wusste, welches Zimmer er vor sich hatte, er erkannte alles, jetzt sogar das Bild an der Wand. Er brauchte nicht mehr zu sehen, ich brauche nicht mehr zu sehen, und in dem Augenblick, als er das dachte, wurde der Bildschirm schwarz.
Gerda Hoffner und Johnny Eilig fuhren die Allén in östlicher Richtung entlang. Für diesmal war das Familiendrama beendet. Die Kinder waren in Sicherheit, wenn man es so sehen wollte. So sollte man es wohl sehen.
Johnny bog zum Vasaplatsen ein. Sie begegneten einer leeren Straßenbahn, die in ihrer Einsamkeit fast gruselig wirkte. Saß überhaupt ein Fahrer darin? Das Licht war blau und kalt. Gerda Hoffner musste an einen Obduktionssaal denken. Lebloses Licht.
»Sieht aus wie ein Geisterschiff.« Johnny deutete mit dem Kopf auf die Straßenbahn, die einen sinnlosen Stopp an der Haltestelle eingelegt hatte und nun weiter Richtung Zentrum fuhr.
»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagte sie.
»Die Straßenbahn fährt also sogar Heiligabend«, sagte Johnny.
»Oma und Opa müssen ja irgendwie nach Hause kommen«, sagte Gerda Hoffner.
»Was?«
»Nichts.«
Sie spähte an der westlichen Fassade hinauf, die weiß und schwarz in der elektrischen Weihnachtsnacht leuchtete.
»Da oben wohnt Winter«, sagte sie.
»Wer?«
»Erik Winter, der Kommissar. Der, mit dem ich über … die Schlafzimmer gesprochen habe. Du weißt. Ich war mit ihm in dem ersten Zimmer.«
»Ach so, der.«
Über ihnen funkelte das Neonlicht des Kiosks. Er schien geöffnet zu sein, war es aber nicht. Er sah einladend aus.
»Heute Abend braucht er jedenfalls kein Zimmer dieser Art aufzusuchen«, sagte Johnny. »Und du auch nicht. Ich auch nicht.«
»Das kann man nicht wissen.«
»Dass es heute Abend wieder passiert? Das wäre zu viel, Gerda.«
Sie schwieg.
Sie bogen nach links in die Vasagatan ein, fuhren weiter nach Osten, an der Universität, dem Park und der Götabergsgatan vorbei. In den Fenstern brannten Lichter, überall Kerzenhalter.
Vor ihnen überquerte ein Mann die Straße.
Jetzt hatte er die Sonnenbrille abgenommen. Als er die andere Straßenseite erreichte, ging er weiter auf der Chalmersgatan. Er ging nach Hause.
Sie überholten ihn, und als sie sich umdrehte, war er verschwunden. Johnny fuhr die Avenyn entlang. Auch sie lag still da in all ihrer Pracht. Die Beleuchtung hätte ausgereicht, in den dunklen Jahren halb Ostdeutschland zu erhellen. Als der Streifenwagen am Taxistand vorbeifuhr, dachte sie an ihre Eltern. Morgen würden sie mit allen Leipziger Heimkehrern zu Weintraub gehen und richtig gut essen. Weintraub war eins der besten Restaurants Deutschlands. Und das Milieu war genauso gut, die Mosaiken, Kacheln, die holzvertäfelten Wände und Decken, die weißen Tischtücher, gestärktes Leinen, stolze Kellner, stolze Köche.
Sie fuhren über den Södra vägen nach Heden hinein.
Ein Mann kam vorbeigestürmt. Ein anderer rannte hinterher.
»Autodiebe«, sagte Johnny und gab Gas. »Jetzt passiert was.«
Die Mattscheibe war nicht mehr schwarz. Es war nur eine Pause gewesen. Winter hatte nicht abgeschaltet. Jetzt erschien ein weiteres Zimmer. Er erkannte es sofort. Die Kamera befand sich im selben Winkel wie zuvor. In derselben Hand, dachte er. Die Hand hielt still. Vielleicht war die Kamera auf einem Stativ montiert, hatte auch vorher auf einem Stativ gestanden. In derlei Dingen war er kein Experte. Aber er war Experte für Zimmer geworden. Auch für dieses Zimmer. Jetzt bewegte sich das Kameraobjektiv. Die Kopfenden der Betten, Nachttische, Stuhl, Fußboden, Wände, Decke. Bücher. Bilder. Ein Fenster, das gleiche blasse Nachtlicht. Jetzt, wo er die Zimmer in bewegten Bildern sah, wurde noch deutlicher, wie ähnlich sie einander waren. Es war, als würde er denselben Film anschauen, so wie man früher gemeinsam dieselben Fotos betrachtet hatte.
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