Der Leuchtturm von Alexandria
solle sagen, du seiest tot?« fragte er.
Ich wünschte, du würdest aus diesem gottverdammten Nest am Ende der Welt heimkehren, aber wenn du es nicht willst, kann ich nichts machen. Und ich werde mich nicht von dir abwenden. Aber komm endlich zur Vernunft, Charition, bitte! Du kannst nicht weitermachen wie bisher. Irgendwann wird es jemand herausfinden. Was ist denn an einem »richtigen« Leben so schlimm, und was meinst du mit »ersticken«? Ich verstehe dich ganz einfach nicht. Aber falls du deine Meinung ändern solltest: Mein Haus ist auch das deine.
Der andere Brief war im April geschrieben worden und klang weniger herzlich.
Ich habe gerade gehört, daß Vater tot ist. Er starb im Lauf des Winters an einer Brustfellentzündung; aber ich habe es jetzt erst erfahren. Bis ich reisen kann, um dort zu bleiben, verwaltet Johannes die Güter. Ich kann noch nicht heimkehren, es besteht auch keine Eile im Augenblick. Ich fühle mich elend; ich hätte früher heimkehren sollen. Er war sehr unglücklich die letzten Jahre: Du warst fort, und ich war in Konstantinopel. Und die Hälfte seiner Pferde hatte er verkaufen müssen. Ich sollte diesen Festinus umbringen, es ist alles seine Schuld. Vater war ein guter Mann; er konnte nichts dafür, daß er ein Feigling war. Ich wünschte, du wärest hier, Charition.
Ich erinnerte mich an meinen Traum. Aber hieß es nicht, sich an der Trauer vorbeizumogeln, wenn ich mir meinen Vater als schon gestorben vorstellte. Ich versuchte es mit einer anderen Erinnerung und sah ihn auf dem Boden kriechen und Festinus anflehen, ihm seine Unschuld zu glauben. Aber es war genau, wie Thorion gesagt hatte, Vater konnte nichts dafür, daß er ein Feigling war: Es war ungerecht, ihn so in Erinnerung zu behalten. Wir waren uns niemals sehr nahe gewesen, aber er hatte sich stets herzlich und liebevoll gezeigt. Am Schluß erinnerte ich mich, wie es war, wenn er nach Hause kam, nachdem er ein öffentliches Fest ausgerichtet hatte: Wie er seinen goldenen Lorbeerkranz abnahm und in die Luft warf und dabei vor Vergnügen laut jauchzte, weil sein Wagen das Rennen gewonnen hatte; wie er mich und Thorion und Maia umarmte und alle Leute im Hause mit Geschenken überhäufte. Schließlich weinte ich ein wenig. Ich schnitt mir die Haare ab und hüllte mich zum Zeichen der Trauer in meinen schwarzen ägyptischen Umhang. Wenn die Leute mich nach dem Grund fragten, erzählte ich ihnen, ein alter Freund und Wohltäter sei gestorben. Aber ich ließ den Namen meines Vaters unerwähnt. In Alexandria war es erforderlich gewesen, immer eine Geschichte parat zu haben, um alles erklären zu können, aber jetzt war dies nicht mehr nötig, und es war besser, die Vergangenheit zu begraben. Ich hatte meinen Vater verlassen – aber auch wenn ich nicht fortgelaufen wäre, hätte ich nicht an seinem Krankenbett sein können. Ich wäre bei Festinus gewesen und hätte Gott weiß wie unter ihm gelitten, während er eine weit entfernt liegende Provinz verwaltet hätte. Was auch immer Sebastianus denken mochte, ich war schließlich nicht Äskulap. Selbst in meinem Traum hatte ich den Toten nicht wieder zum Leben erwecken können.
Es dauerte nur etwa einen Monat, bis ich Athanaric wiedersah. Ich befand mich in einem Lager zwei Tagesritte flußaufwärts und hielt meinen üblichen Vortrag über Adernpressen. Dieses Lager war ziemlich klein: ein Wachturm mit einem halben Dutzend Soldaten zu seiner Bewachung. Die Männer saßen draußen zu Füßen des Turms und gafften mich an, während ich zu ihnen sprach. Es war noch früh am Morgen, doch die Sonne brannte bereits heiß vom Himmel; im Schatten der Bäume wimmelte es von Moskitos, und die Zuhörer schenkten mir keine sonderliche Beachtung. Dann stieß einer der Soldaten plötzlich einen gellenden Schlachtruf aus, und Athanaric galoppierte auf uns zu. Er hatte seinen Umhang über die Schultern geworfen, und auf seinem Schwertgriff blinkte die Sonne. Unmittelbar vor uns brachte er sein Pferd zum Stehen und sprang herunter. »Da bist du ja!« sagte er zu mir. »Sind diese Männer alles Patienten, oder kannst du sie alleine lassen?«
»Deinen Namen bitte«, sagte der Befehlshaber des Wachturms in dienstlichem Ton, beschämt darüber, bei seiner mangelhaften Wachsamkeit ertappt worden zu sein.
»Athanaric, Sohn des Ermaneric von Sardica, Curiosus der Agentes in rebus.«
Dies hatte den üblichen Effekt; die Männer sprangen allesamt auf und murmelten einen respektvollen Gruß. »Hast du
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