Der Leuchtturm von Alexandria
daß mein eigenes Leben schon irgendwann beginnen werde. Vielleicht war es ja sogar ein Glück, daß ausgerechnet Festinus den Vorschlag gemacht hatte, mich zu heiraten. Wäre es irgendein anderer gewesen, hätte ich meinem Vater wahrscheinlich demütig gehorcht. Und ob mein Leben, wenn ich erst einmal verheiratet gewesen wäre, wirklich begonnen hätte, so wie ich es geplant hatte? Oder hätte mein Ehemann mir allen Mut genommen und mir verboten, mich als Ärztin zu betätigen, und mich statt dessen in die Rolle der tugendhaften Ehefrau gedrängt? Er hätte keine Gewalt anwenden müssen. Ich war daran gewöhnt, mich zu verstellen – das sah ich jetzt ganz deutlich –, war daran gewöhnt, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die Leute in dem Glauben zu lassen, ich sei diejenige, die sie in mir sehen wollten. Und wenn ich dauernd damit beschäftigt wäre, mich zu verstellen, hätte ich vielleicht keine Zeit mehr, wirklich ich selbst zu sein. So hätte ich vielleicht mein ganzes Leben lang gewartet, hätte geheiratet, Kinder geboren, wäre alt geworden und hätte niemals mehr mit meiner eigenen Stimme gesprochen oder meine eigenen Gedanken gedacht, und am Schluß wäre ich vielleicht tatsächlich diejenige geworden , deren Rolle ich gespielt hätte. Jetzt mußte ich beweisen, was in mir steckte.
Thorion und Maia sahen sich an, beide mit derselben Mischung aus Verwunderung und Hoffnung. Maias Augen waren rot: Sie hatte sich vergangene Nacht neben mir in den Schlaf geweint, meine Haare gestreichelt und mich ihr kleines Baby genannt.
»Ich möchte nach Alexandria gehen«, sagte ich, »und dort studieren, um Ärztin zu werden.«
»Das kannst du nicht«, sagte Thorion verächtlich, und an die Stelle der Hoffnung trat Ärger. »Frauen können nicht Medizin studieren.«
»Ich werde mich als Mann verkleiden.«
»Du siehst aber nicht aus wie ein Mann. Und was würdest du auf den öffentlichen Toiletten tun? Deine Tunika raffen und dich in eine Ecke hocken? Und du könntest auch nicht in die öffentlichen Bäder gehen oder in den Gymnasien Sport treiben oder… sonst was. Niemand würde dir glauben!«
»Ich werde mich als Eunuch verkleiden. Von Eunuchen erwartet man Bescheidenheit: Ich wette, sie raffen ihre Tunikas und pinkeln in die Ecke und zeigen sich nirgends nackt. Und man sagt immer, daß sie weibisch aussehen, zumindest solange sie jung sind.« Alle Eunuchen, die ich in Ephesus gesehen hatte, waren nicht mehr ganz so jung und sie sahen auch nicht eigentlich weibisch aus. Aber sie machten auch keinen sehr männlichen Eindruck.
»Was würde man wohl zu einem Eunuchen sagen, der in Alexandria Medizin studiert? Er könnte eher ein Amt am kaiserlichen Hof bekleiden und sich dort sein Geld verdienen. Ein im Ruhestand lebender Kammerherr bekommt tausend Solidi im Jahr! Ganz zu schweigen von den Bestechungsgeldern, die er nebenher einnimmt!«
»Vielleicht liegt mir gar nichts daran, Kammerherr des Kaisers zu sein und Bestechungsgelder anzunehmen. Außerdem sind alle Kammerherren Sklaven. Ein freigeborener Eunuch könnte durchaus Medizin studieren wollen, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil alle Welt Kammerherren haßt.«
»Eunuchen sind aber nicht frei geboren. Wer würde so etwas schon freiwillig mit sich geschehen lassen?« Thorion hielt seine Hände schützend über seine Genitalien. »Außerdem ist es ungesetzlich. Eunuchen sind allesamt Perser oder Abasgi aus Kolchis, in das Kaiserreich importierte Sklaven, bestimmt dazu, hier Kammerherren oder Privatsekretäre zu werden.«
»Ach, hör doch auf damit!« sagte ich. »Du weißt doch ganz genau, daß es freigeborene Eunuchen gibt. Zum Beispiel diejenigen, die als normale Männer von den Persern gefangengenommen und erst dann kastriert worden sind. Gut, sagen wir also, ich bin ein Eunuch irgendwo aus dem Osten… aus Amida. Die Perser haben die Stadt erobert, erinnerst du dich? Ischyras hat uns viel darüber erzählt, es war seine Heimatstadt. Ich bin also aus einer angesehenen Familie in Amida, ich wurde von den Persern gefangengenommen und kastriert, als ich noch klein war. Und dann von dir und Ischyras freigekauft. Jetzt möchte ich einen nützlichen Beruf erlernen. Und weil ich keine Neigungen zeige, einen Verwaltungsberuf zu ergreifen, schickt ihr mich, du und Ischyras, nach Alexandria, um Medizin zu studieren. Das klingt doch durchaus glaubwürdig, oder?« Maia begann erneut zu weinen. Ich trat zu ihr und umarmte sie.
»Bitte nicht«, redete ich
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