Der Leuchtturm von Alexandria
anderen begannen allmählich mich ernst zu nehmen. Einige mochten mich noch weniger als zuvor, da ich plötzlich ein Rivale war und keinen Anlaß mehr zum Scherzen bot, doch andere fingen an, mich mit größerer Hochachtung zu betrachten. »Und was hätte Hippokrates dazu gesagt?« pflegte Adamantios seine Zuhörerschaft zu fragen. Und dabei sah er mich erwartungsvoll an.
Am späten Vormittag ging ich dann in die Stadt hinunter, um Philon zu treffen. Wir verabredeten uns gewöhnlich auf dem Somaplatz, an einer Säule mit einem in Stein gemeißelten Delphin. Ein Lächeln und ein Wort zur Begrüßung, dann ergriff ich seine Arzttasche, und wir machten uns auf den Weg zu seinen Patienten und diskutierten im Gehen medizinische Probleme. Bisweilen luden uns die Patienten zum Mittagessen ein; bisweilen kauften wir in einem Laden oder bei einem Straßenhändler etwas Wein und Brot oder Früchte. Philon arbeitete den ganzen Nachmittag, sogar während der heißen Mittagsstunden, wenn die meisten Leute schliefen: Er meinte, die Menschen fühlten sich um diese Zeit oft am schlechtesten. Außerdem verbrachte er seine Abende gerne zu Hause mit seiner Familie. Wir waren stets vor Sonnenuntergang zu Hause. Im Hauptraum des Hauses mit seinem gelbgefliesten Fußboden und dem abgenutzten Eichentisch nahmen wir eine einfache Mahlzeit ein, sprachen über medizinische Probleme, über die Patienten oder den Klatsch aus der Nachbarschaft. Nach dem Abendbrot pflegten Philon und seine Familie einige Gebete zu sprechen und in den Büchern Moses zu lesen. Nach den ersten paar Wochen ging ich dann hinauf in mein Zimmer und las medizinische Texte oder bereitete irgendwelche Arzneien vor, die Philon am nächsten Tag brauchte. Anfangs erschöpfte mich dieses Leben sehr. Mehrere Wochen hindurch war ich unfähig, am Abend auch nur das geringste zu tun, außer in mein Zimmer hinaufzugehen, die Tür zu verriegeln und auf das Bett niederzusinken. Ich glaube, Adamantios und die Spötter im Tempel hatten recht: Es war Schwerstarbeit, und jemand, der so etwas nicht gewohnt war, war schlecht beraten, sich darauf einzulassen. Allerdings kam es mir nicht so vor wie Arbeit. Sich den ganzen Tag lang, von der Morgendämmerung bis spät in die Nacht hinein, mit nichts anderem zu beschäftigen als mit der Kunst des Heilens – das war der Gipfel der Freude und keine Arbeit. Das Gefühl der Müdigkeit verschwand, sobald ich mich an mein neues Leben gewöhnt hatte, nicht aber das Glücksgefühl. Ich hatte vorher gar nicht bemerkt, wie eingeschränkt mein früheres Leben gewesen war. Ich hatte niemals selbständig die Straßen hinunterspazieren oder mein eigenes Geld ausgeben, ja nicht einmal einfache Dinge selbständig entscheiden können, wie zum Beispiel, was ich lesen oder anziehen oder zum Mittagessen zu mir nehmen wollte. Jede Einzelheit war mir vorgeschrieben worden. Jetzt war der Geschmack der Freiheit um so köstlicher.
Der Sommer schien jahrelang zu dauern: Ich lernte so viel, veränderte mich so sehr. Es schien mir ganz natürlich, an mich selbst als an einen Mann zu denken, und in den Vorlesungsräumen des Tempels verlor ich allmählich den letzten Rest meiner mädchenhaften Bescheidenheit. Wie wild kaufte und las ich Bücher. Einige handelten von den verschiedenen medizinischen Theorien, aber diese waren im großen und ganzen nicht sehr hilfreich. Wenn der eine Schriftsteller behauptete, Krankheit sei das Ungleichgewicht im Verhältnis der vier Körpersäfte und diese seien Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle, so stimmte ein anderer mit diesem vielleicht in bezug auf die Krankheit überein, war jedoch, was die vier Körpersäfte anbetraf, anderer Meinung. Ein dritter vertrat eine vollkommen entgegengesetzte Ansicht und behauptete, Krankheiten würden durch ein Mißverhältnis zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung hervorgerufen. Doch wenn man ganz konkret mit einem wirklichen Patienten konfrontiert ist, der wirklich krank ist und schwitzend und bleich vor einem liegt, ist nichts davon auch nur im geringsten hilfreich. Ich war mit Philon einer Meinung, daß der Praxis eine höhere Wahrheit innewohnt als allen Theorien, und deshalb konzentrierte ich meine Bemühungen darauf, praktische Erfahrungen zu sammeln.
Ich studierte die Heilkräuter und stellte in ihrem Zusammenhang viele Fragen. Auf dem Gebiet der Arzneien fühlte ich mich am hilflosesten, da ich noch nichts über sie wußte. Eine meiner Pflichten als Philons Assistent bestand
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