Der Leuchtturm von Alexandria
Alexandria! Und es war so, als beginne mein ganzer Körper zu singen.
Für gewöhnlich stand ich vor Morgengrauen auf – wegen der Hitze tut das im Sommer jeder Ägypter. Ich wusch mich in dem ersten fahlen Licht, das durch die Fensterläden drang. Während ich mich über eine Schüssel beugte und mich mit lauwarmem Wasser bespritzte, drangen von der Straße unten die Geräusche der Karren und Lastkamele herauf, die vollgepackt mit Waren zum Markt zogen, und die Stimmen der Frauen, die ihre Tagesration Wasser aus dem öffentlichen Brunnen holten. Für unseren Haushalt besorgte dies die Sklavin Apollonia. Ich begegnete ihr für gewöhnlich in der Küche, wenn ich die Treppe hinunterging. Wir wünschten uns gegenseitig einen guten Morgen, und ich holte mir einen Fladen Kümmelbrot aus der Küche und aß ihn auf dem Weg zum Tempel. Wenn ich aus der Tür von Philons Haus trat, herrschte immer noch das fahle Licht der Morgendämmerung, doch die Straßen waren bereits bevölkert. Ehrbare Männer und Frauen eilten zur Arbeit; Schuljungen stürmten die Straßen hinunter und brüllten sich gegenseitig etwas zu oder gingen brav neben einem der Sklaven ihrer Familie her, die die kleinen Herren zu ihrer täglichen Portion Homer begleiteten. Auf der Via Canopica öffneten die Läden. Bäcker häuften auf langen Tischen vor ihren Läden duftende Laibe frischen Brots auf, das sie während der Kühle der Nacht gebacken hatten; Fleischhändler stellten junge Ziegen mit zusammengebundenen Beinen und geflochtene Weidenkäfige voller Küken auf die Straße; Barbiere wetzten ihre Rasiermesser und hielten Ausschau nach Kunden; Bauern vom Land ließen sich am Straßenrand nieder, breiteten ihre frischen Früchte oder grünen Kräuter zum Verkauf aus und priesen den Passanten in einem nasalen Singsang ihre Waren an. Die verhüllten Sänften und Tragsessel der Reichen segelten über den Köpfen der gemeinen Menge wie Schiffe auf der rauhen See. Ich konnte mir kaum mehr vorstellen, daß ich daran gewöhnt gewesen war, mich in einer von ihnen fortzubewegen. Ich bahnte mir meinen Weg über den Somaplatz, wo in den umliegenden Ruinen Vögel sangen. Dann hielt ich einen Augenblick inne und blickte mich um: Wenn ich die richtige Zeit erwischt hatte, konnte ich sehen, wie sich die Morgenröte vom Sonnentor aus die breite Via Canopica hinunter ergoß und die wuchtigen Baumassen der öffentlichen Gebäude in ihr grelles Licht tauchte, so daß sich Menschen und Tiere überdeutlich wie die Figuren eines Gemäldes von ihnen abhoben. Wenn ich dann am Tempel ankam, war die Sonne über die grüne Ebene des Deltas emporgeklettert: Vom Torweg aus konnte ich die ganze große Stadt überblicken, ein riesiger, glitzernder Edelstein am Ufer des blau schimmernden Meeres.
Ich verbrachte den frühen Vormittag im Tempel, besuchte Vorlesungen und diskutierte mit den anderen Medizinstudenten. Es gab etwa hundert von ihnen, und sie kamen von überallher aus dem Ostreich, obwohl die meisten wahrscheinlich Alexandriner waren. Während der ersten paar Wochen hielt ich mich bei den Diskussionen zurück, da mich ihr Wissen nach wie vor einschüchterte. Ihrerseits neigten sowohl die Studenten als auch die Vortragenden dazu, hämisch über mich zu grinsen. Es war offensichtlich, daß sie mich für einen verweichlichten asiatischen Eunuchen hielten, der sich einbildete, ein Arzt werden zu müssen. Sie erwarteten alle miteinander, daß ich bald aufgeben und nach Hause gehen würde, besonders, da Philon dafür bekannt war, »wie ein Sklave« zu arbeiten. Anfang Juni jedoch machte einer der Studenten, ein sehr gesprächiger junger Mann aus Antiochia, lauthals eine Bemerkung, bei der er die Methode, Verrenkungen zu behandeln, mit derjenigen für Muskelzerrungen verwechselte. Da niemand sonst etwas dazu sagte, wies ich nach einigem Zögern sehr zurückhaltend darauf hin, daß mein geschätzter Gesprächspartner wohl einem Irrtum erlegen sei, und zitierte aus einer Schrift des Hippokrates. Der andere machte einen verlegenen Eindruck, die übrigen Studenten feixten, und der Vortragende war überrascht und zollte mir Beifall. Mir wurde klar, daß keiner der übrigen Studenten das in Frage stehende Werk gelesen hatte. Ich konnte also ruhig ebenso frei heraus reden wie irgendeiner von ihnen und brauchte nicht mehr aus Angst, mich lächerlich zu machen, den Mund zu halten. Nach diesem Vorfall machte ich immer öfter diese oder jene Bemerkung oder stellte irgendwelche Fragen, und die
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