Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
zurückkehrte und ihn um Verzeihung bat. Das hatte sie in dem Moment begriffen, als sie ihn bei ihren Eltern in der Küche sah. Es gab keine Vergebung, und es war idiotisch gewesen, daran zu glauben.
Ihre armen Eltern. Sie konnte sich vorstellen, wie besorgt sie waren und wie sie heftig diskutierten, ob sie sich mit der Polizei in Verbindung setzen sollten oder nicht. Ihr Vater wollte es vermutlich. Er würde darauf beharren, dass es der einzige Ausweg war. Ihre Mutter würde ihm jedoch widersprechen, aus panischer Angst, dass sonst alles aus und jegliche Hoffnung zunichte wäre. Ihr Vater hatte recht, aber am Ende setzte sich immer ihre Mutter durch. Daher würde niemand kommen, um sie zu retten.
Sie rollte sich noch mehr zusammen und versuchte, ihren Körper in einen kleinen Ball zu verwandeln. Da jede Bewegung weh tat, lockerte sie ihre Muskeln wieder. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt. Sie lag ganz still da und versuchte, sich in ihr Inneres zurückzuziehen. Eine harte Hand packte sie am Arm und zerrte sie auf die Beine.
»Hoch mit dir, du verdammte Hure.«
Sie hatte das Gefühl, der Arm würde ihr ausgerissen, irgendetwas ginge in ihrer Schulter kaputt.
»Wo sind die Kinder?«, flehte sie. »Darf ich sie sehen?«
Verächtlich sah Stefan sie an.
»Das hättest du wohl gern! Damit du mir meine Kinder wieder wegnehmen und mit ihnen abhauen kannst. Niemand, hörst du mich, niemand nimmt mir meine Kinder weg.« Er schleifte sie durch die Tür und die Treppe hinunter.
»Verzeih mir. Bitte, verzeih mir«, schluchzte sie. Ihr Gesicht war voller Blut, Dreck und Tränen.
Im Erdgeschoss waren Stefans Männer versammelt. Der harte Kern. Sie kannte sie alle: Roger, Paul, Lillen, Steven und Joar. Nun standen sie schweigend da und sahen zu, wie Stefan sie durchs Zimmer schleppte. Sie konnte kaum gucken. Das eine Auge war völlig zugeschwollen, und in das andere rann Blut aus einer Platzwunde an der Stirn. Trotzdem erkannte sie jetzt alles ganz deutlich. Sie sah es den Männern an, ihren Gesichtern, die teils kalt, teils voller Bedauern waren. Joar, der immer am nettesten zu ihr gewesen war, blickte plötzlich zu Boden. Da wusste sie Bescheid. Sie überlegte, ob sie um sich schlagen, kämpfen, wegrennen sollte. Doch wo konnte sie hin? Sie hatte keine Chance. Flucht hätte ihr Leid nur verlängert.
Sie stolperte hinter Stefan her, der ihren Arm noch immer fest umklammert hielt. Im Laufschritt überquerten sie den Acker hinter dem Haus und näherten sich dem Waldstück. Sie rief sich Bilder von Vilda und Kevin ins Gedächtnis. Neugeboren und mit Geburtsschmiere auf ihrer Brust. Groß und endlich wieder lachend in der Spielecke auf dem Innenhof. An die Zeit dazwischen, als die Blicke der Kinder von Tag zu Tag leerer und hilfloser wurden, wollte sie sich nicht erinnern. Sie durfte gar nicht daran denken, dass sie nun wieder in dieses Stadium zurückfallen würden. Sie war gescheitert. Anstatt die beiden zu beschützen, war sie weich geworden. Nun bekam sie ihre Strafe, und die nahm sie gern an, wenn ihre Kinder verschont wurden.
Sie waren ein Stück in den Wald hinein gegangen. Die Vögel zwitscherten, und durch das Blätterdach drangen einzelne Lichtstrahlen. Sie blieb mit dem Fuß an einer Wurzel hängen und wäre beinahe gefallen, doch Stefan zerrte sie weiter bis zu einer Lichtung. Für einen Moment sah sie Mats’ Gesicht vor sich. Sein schönes, freundliches Gesicht. Sie hatte ihn sehr geliebt, doch auch er hatte seine Strafe bekommen.
An der Lichtung sah sie dann das Loch. Eine rechteckige Vertiefung, vielleicht anderthalb Meter tief. Der Spaten stand noch daneben, tief in den Waldboden gerammt.
»Stell dich an die Kante.« Stefan ließ ihren Arm los.
Madeleine gehorchte. Sie hatte keinen eigenen Willen mehr. Am ganzen Körper zitternd, stand sie am Rand des Lochs. Als sie hineinblickte, sah sie mehrere fette Regenwürmer, die sich in die feuchte dunkle Erde bohrten. Mit einer letzten Kraftanstrengung drehte sie sich um, bis sie Stefan von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Er sollte ihr wenigstens in die Augen sehen.
»Ich werde dir direkt zwischen die Augenbrauen schießen.« Stefan richtete die Pistole mit dem ausgestreckten Arm auf sie. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Er war ein ausgezeichneter Schütze.
Als der Schuss losging, flog ein Vogelschwarm erschrocken auf. Bald saßen die Tiere jedoch wieder auf ihren Zweigen, und ihr Gezwitscher vermengte sich mit dem Rauschen der
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