Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
Zähne zusammen. »Die arme, arme Signe.«
»Es ist hart, innerhalb von zwei Wochen Sohn und Mann zu verlieren«, sagte Erica leise.
»Wie geht es ihr?«, fragte Annie mitfühlend.
»Ich habe keine Ahnung. Sie liegt im Krankenhaus und ist anscheinend in einem schlimmen Zustand.«
»Arme Signe«, wiederholte Annie. »So viele Schicksale. So viele Tragödien.« Wieder betrachtete sie den Artikel.
»Ja.« Erica wusste nicht, was sie noch sagen sollte. »Dürfte ich mal auf den Leuchtturm steigen?«, fragte sie schließlich.
Annie zuckte zusammen, als wäre sie tief in Gedanken versunken.
»Ja … klar. Ich hole nur schnell den Schlüssel.« Sie eilte zum Haus.
Erica stand auf und ging zum Leuchtturm. Als sie direkt davor stand, lehnte sie sich zurück und blickte hoch. Die weiße Farbe leuchtete in der Sonne. Oben kreisten einige kreischende Möwen.
»Hier ist er.« Keuchend kehrte Annie mit einem großen verrosteten Schlüssel in der Hand zurück …
Mit einiger Anstrengung ließ er sich im Schloss umdrehen, und die schwere Tür ging auf. Die Scharniere quietschten und wehrten sich lautstark. Erica ging hinein und vor Annie die steile Wendeltreppe hinauf. Schon auf halbem Weg war sie außer Atem, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Die Aussicht war zauberhaft.
»Wow«, sagte sie.
Annie nickte stolz. »Es ist wirklich wundervoll.«
»Stell dir mal vor, dass sie sich stundenlang in diesem engen Raum aufgehalten haben.« Erica sah sich um.
Annie stellte sich dicht neben sie, so dass sich ihre Schultern fast berührten.
»Eine einsame Arbeit. Als wäre man am Ende der Welt.« Sie schien in Gedanken ganz weit weg zu sein.
Erica schnupperte. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft, fremd und doch bekannt. Sie wusste, dass sie ihn schon einmal wahrgenommen hatte, konnte ihn aber nicht richtig einordnen. Annie hatte einen Schritt nach vorn gemacht, um aus dem Fenster zu sehen. Erica stellte sich direkt hinter sie.
»Manch einer würde hier durchdrehen.«
Ihr Gehirn versuchte fieberhaft, den Geruch zu identifizieren. Dann wurde ihr plötzlich klar, woher sie ihn kannte. Ihre Gedanken rasten weiter, und allmählich setzten sich die Puzzleteile zusammen.
»Würdest du hier auf mich warten, bis ich meine Kamera aus dem Boot geholt habe? Ich möchte gern ein paar Fotos machen.«
»Klar«, sagte Annie widerwillig und setzte sich auf das schmale Bett.
»Super.« Erica hastete die Treppe und den kleinen Hügel hinunter, auf dem der Leuchtturm stand. Doch statt zum Anlegesteg lief sie zum Haus. Sie versuchte, sich einzureden, dass dies nur eine ihrer verrückten Ideen war. Trotzdem musste sie sich vergewissern.
Sie warf noch einen Blick über die Schulter, dann drückte sie die Klinke herunter.
Madeleine hatte sie gestern gehört. Dass es Polizisten waren, wusste sie erst, nachdem Stefan nach oben gekommen war und es ihr erzählt hatte. Zwischen den Schlägen.
Sie schleppte ihren grün und blau geprügelten Körper ans Fenster. Mühsam zog sie sich am Sims hoch und blickte nach draußen. Das kleine Zimmer hatte eine Dachschräge, und Licht drang einzig durch eine winzige Luke herein. Draußen waren nur Acker und Wald zu sehen.
Da sie sich nicht die Mühe gemacht hatten, ihr die Augen zu verbinden, wusste sie, dass sie auf dem Hof war. Als sie noch hier wohnte, war dies das Kinderzimmer gewesen. Nun erinnerte nur noch ein einsames Spielzeugauto in der Ecke an ihre Anwesenheit.
Sie legte die Hand an die Wand und befühlte die Struktur der Tapete. Hier hatte Vildas Gitterbett gestanden, Kevins Bett an der Längsseite. Es schien so lange her. Sie konnte sich kaum noch an ihr Leben hier erinnern. Ein Leben in Angst, aber mit den Kindern.
Sie fragte sich, wo sie waren. Wo mochte Stefan sie hingebracht haben? Vermutlich waren sie bei einer der Familien, die nicht hier auf dem Hof wohnten. Eine der anderen Frauen kümmerte sich jetzt um ihre Kinder. Die Sehnsucht war fast noch schlimmer als der körperliche Schmerz. Sie sah die beiden vor sich: Vilda, die mit den Haaren im Gesicht die Rutsche auf dem Kopenhagener Innenhof hinuntersauste, und Kevin, der seiner mutigen kleinen Schwester voller Stolz zusah. Ob sie ihre Kinder jemals wiedersehen würde?
Weinend sank sie zu Boden. Dort blieb sie zusammengekrümmt liegen. Ihr Körper fühlte sich wie ein einziger Bluterguss an. Stefan hatte sich nicht zurückgehalten. Sie hatte sich geirrt, schrecklich geirrt, als sie dachte, es wäre das Sicherste, wenn sie zu ihm
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