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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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packte den Vogel. Er sprang mir ziemlich vergnügt auf den Finger, doch die Frau regte sich, und der Vogel stimmte irgendein schreckliches Lied an, in dem es darum ging, nach Sorrent zurückzukehren.
    Schnell wie ein Pfeil schlang ich ihm ein Spitzendeckchen über den Schnabel, schlüpfte aus dem Raum und in die Gasse.
    Ich war eine Diebin. Ich hatte den Vogel gestohlen.
     
    Ein halbes Jahr lang lebte ich nervös auf meiner Seite der Insel vor mich hin und wollte auf keinen Fall nach Hause fahren, weil ich es nicht über mich gebracht hätte, den Vogel in Quarantäne zu geben. Meine Partnerin kam zu Besuch und fragte mich, warum ich nicht nach Hause käme. Ich sagte, ich könne nicht nach Hause kommen – wegen des Vogels.
     
    »Deine Arbeit geht den Bach runter und deine Beziehung geht den Bach runter – vergiss den Vogel.«
    Vergiss den Vogel! Dann hätte ich mich genauso gut selbst vergessen können. Und genau das war natürlich mein Problem – ich hatte mich längst selbst vergessen, lange vor dem Vogel, und ich wollte mich auf eine chaotische, empörende Art immer weiter vergessen, mich gleichzeitig aber auch finden. Immer wenn der Vogel meinen Namen sagte, war es, als hörte ich ihn nicht zum ersten Mal, aber seit langer Zeit wieder, als wäre ich aus einem Drogenrausch erwacht.
    »Buongiorno, Silver!« Jeden Tag erinnerte mich der Vogel an meinen Namen, das heißt, er erinnerte mich daran, wer ich war.
     
    Ich wäre so gern klarer. Ich würde so gerne sagen: »In meinem Leben war kein Licht. Mein Leben verschlang mich bei lebendigem Leibe.« Ich würde so gerne sagen: »Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, also habe ich einen Vogel geklaut.«Streng genommen entspricht das sogar der Wahrheit, und aus diesem Grund ließ mich die Polizei laufen, anstatt mir den Diebstahl eines heißgeliebten Aras zur Last zu legen. Der italienische Arzt verschrieb mir Prozac und überwies mich an die Travistock Klinik in London, wo ich mich einer Reihe von Tests unterziehen sollte. Die Frau, deren Vogel es gewesen war und wieder wurde, hatte Mitleid mit mir; sie hatte ihren Vogel zwar wieder, aber das heißt nicht, dass es bei ihr gepiept hätte. Sie schenkte mir einen Stapel alter
National Geographic
-Hefte, damit ich in der Klapsmühle etwas zu lesen hätte, wo ich, wie sie von dem freundlichen Mann aus dem Pizzaladen erfuhr, den Rest meines Lebens verbringen würde.
     
    Der Rest meines Lebens. Ich war immer rastlos, bin immer gerannt, so schnell gerannt, dass die Sonne keinen Schatten werfen konnte. Da bin ich also – auf halbem Wege, orientierungslos in einem dunklen Wald –, in dieser
selva oscura
, ohne Taschenlampe, ohne Führer, ohne Vogel.
     
    Der Psychiater war ein sanfter kluger Mann mit sehr sauberen Fingernägeln. Er wollte wissen, warum ich mir nicht schon früher hatte helfen lassen.
    »Ich brauche keine Hilfe – jedenfalls nicht solche, wie ich sie hier bekomme. Ich kann mich alleine anziehen, ich kann Toast machen, Liebe machen, Geld machen, Sinn machen.«
    »Warum haben Sie den Vogel gestohlen?«
    »Ich liebe Geschichten mit sprechenden Vögeln, vor allem Siegfried, den der Waldvogel aus dem Wald hinaus und zum Schatz führt. Siegfried ist blöd genug, den Vögeln zuzuhören, und da dachte ich, dieses Picken am Fenster meines Lebens könnte bedeuten, dass ich auch mal zuhören sollte.«
    »Sie haben gedacht, der Vogel hätte mit Ihnen gesprochen?«
    »Ich weiß genau, der Vogel hat mit mir gesprochen.«
    »War denn niemand da, mit dem Sie stattdessen hätten sprechen können?«
    »Ich habe ja nicht mit dem Vogel gesprochen. Der Vogel hat mit mir gesprochen.«
    Es entstand eine lange Gesprächspause. Es gibt Dinge, die sollten in anderer Leute Gesellschaft lieber nicht zur Sprache kommen. Siehe oben.
    Ich versuchte, die Sache ins Lot zu bringen.
    »Ich war mal bei einer Therapeutin, und von der bekam ich ein Buch mit dem Titel
Das ungewebte Netz
. Ehrlich gesagt, da lass ich mir doch lieber was von einem Vogel erzählen.«
    Jetzt hatte ich mich nur noch mehr reingeritten.
    »Möchten Sie einen neuen Vogel?«
    »Das war nicht irgendein Vogel; es war ein Vogel, der meinen Namen kannte.«
    Der Arzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Führen Sie Tagebuch?«
    »Ich habe eine Sammlung silberner Notizbücher.«
    »Sind sie konsistent?«
    »Ja. Ich kaufe sie immer im selben Kaufhaus.«
    »Ich meine, schreiben Sie Ihre Erlebnisse einmal auf oder mehrmals? Haben Sie vielleicht das Gefühl, mehr als ein Leben

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