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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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Leben ringenden Formen, gerade wo man glaubte, aufrecht stehen zu können.
    Vor Jahren in Railings Row, auf zwei zusammengeschobenen Küchenstühlen, unter Miss Pinchs Ganze-Ente-Daunendecke, rief alles in mir nach einer sicheren und stabilen Welt. Damals wollte ich keinen Neuanfang. Ich war zu klein und zu müde.
    Pew brachte mir bei, dass nichts wirklich verschwindet, dass man sich alles wiederholen kann, nicht genau, wie es war, aber in umgewandelter Form.
    »Nichts bleibt immer gleich, Kind, nicht einmal Pew.«
     
    Bevor er die
Entstehung der Arten
schrieb, verbrachte Darwin fünf Jahre als Naturkundler an Bord der
Beagle
. In der Natur fand er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nicht, wie wir sie kennen, er fand einen evolutionären Prozess des Wandels – Energie, die nie allzu lange gefesselt bleibt –, das Leben, ein stetes Werden.
     
    Als Pew und ich aus dem Leuchtturm geworfen wurden wie Lichtstrahlen und Blitze, wollte ich, dass alles so weitergeht wie bisher. Ich wollte etwas Bleibendes und Zuverlässiges. Zweimal im Stich gelassen – erst von meiner Mutter und dann von Pew –, suchte ich nach einem sicheren Hafen und beging schon bald den Fehler, einen zu finden.
    Die einzige Möglichkeit aber war, die Geschichte wieder von vorn zu erzählen.
     
    Erzähl mir eine Geschichte, Silver.
    Welche Geschichte?
    Die Geschichte mit dem sprechenden Vogel.
    Das war später, viel später, als ich gelandet und erwachsen geworden war.
    Trotzdem, es ist deine Geschichte.
    Ja.

SPRECHENDER VOGEL

Zwei Tatsachen: Silber reflektiert 95 Prozent seines eigenen Lichts. Silber gehört zu den wenigen Edelmetallen, die in kleinen Mengen gefahrlos verzehrt werden können.
    Ich war nach Capri gefahren, weil es mir besser geht, wenn ich von Wasser umgeben bin.
    Während ich mich auf einem der weiß gestrichenen Gässchen den Hügel oberhalb der Blauen Grotte hinunterschlängelte, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief – »Buongiorno, Silver!«
    Im Fenster einer kleinen Wohnung stand ein großer Käfig, und in diesem großen Käfig befand sich ein glänzender Vogel mit Hakenschnabel.
    Natürlich war es nur Zufall – obwohl Jung behauptet, es gebe keine Zufälle, weiß ich, dass es sich nicht um Magie handelte, nur um einen trainierten Kehlkopf mit Federn, aber dieser Zufall traf zusammen mit einer spontanen Sehnsucht danach, meinen Namen zu hören. Namen haben noch immer etwas Magisches; sogar Sharon, Karen, Darren und Warren haben für irgendwen irgendwo etwas Magisches. Im Märchen ist Namensgebung mit Erkenntnis gleichgesetzt. Kenne ich deinen Namen, kann ich deinen Namen rufen, und wenn ich deinen Namen rufe, kommst du zu mir.
    Der Vogel rief also: »Buongiorno, Silver!«, und ich stand da und sah ihn lange Zeit an, bis mich die Frau in der Wohnungfür eine Diebin oder eine Verrückte hielt und mit einer kleinen Madonnenfigur gegen die Fensterscheibe trommelte.
    Ich winkte sie zu mir nach draußen und fragte sie, ob der Vogel zu verkaufen sei.
    »No, no, no!«, sagte sie. »Quell’uccello è mia vita!« (
»Dieser Vogel ist mein Leben!«
)
    »Was, Ihr ganzes Leben?«
    »Si, si, si! Mio marito è morto, mio figlio sta nell’esercito e ho soltano un rene.« (
»Mein Mann ist tot, mein Sohn ist beim Militär, und ich habe nur eine Niere.«
)
    Die Sache sah für uns beide nicht gut aus. Sie umklammerte ihre Madonnenfigur.
    »Se non fosse per quell’uccello e il mio abbonamento alla
National Geographic Magazine
non avrei proprio niente.« (»
Und ohne diesen Vogel und mein
National Geographic-
Abonnement hätte ich gar nichts.«
)
    »Gar nichts?«
    »Niente! Rien! Nichts!«
    Sie knallte die Tür zu und stellte die Madonnenfigur in den Vogelkäfig. Mit gestutzten Flügeln schlich ich mich davon, um irgendwo einen Espresso zu trinken.
    So eine schöne Insel – blau, sahnig, rosa, orange. Aber an jenem Tag war ich farbenblind. Ich wollte diesen Vogel haben.
    In der Nacht schlich ich mich zurück zu der Wohnung und spähte durchs Fenster. Die Frau döste vor dem Fernseher in ihrem Sessel, während
Batman
lief.
    Ich ging ums Haus zur Tür und drehte am Knauf. Sie war offen! Ich ging hinein und schlich mich in das kleine Zimmer mit den selbst gehäkelten Spitzendeckchen und Plastikblumen. Der Vogel betrachtete mich – »Hübscher Junge! Hübscher Junge!«. Aber wen kümmern schon Geschlechterfragen in so einem Moment?
    Mit lächerlicher Ernsthaftigkeit pirschte ich mich an denKäfig heran, sperrte die Drahttür auf und

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