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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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zu führen?«
    »Natürlich habe ich das. Es wäre doch unmöglich, nur eine einzige Geschichte zu erzählen.«
    »Vielleicht sollten Sie’s mal ausprobieren.«
    »Mit Anfang, Mitte und Schluss?«
    »So in etwa, ja.«
    Ich dachte an Babel Dark und seine ordentlichen braunen Notizbücher und an seinen zerschlissenen Ordner. Ich dachte daran, wie Pew dem Feuer die Geschichten entriss.
    »Kennen Sie die Geschichte von Jekyll und Hyde?«
    »Natürlich.«
    »Nun, um beide Extreme zu meiden, ist es nötig, nach all den Leben dazwischen zu suchen.«

Das Seepferdchen lag in seiner Tasche.
     
    Dark ging am Strand entlang.
    Der Mond war neu und lag auf dem Rücken, als wäre er von demselben Wind umgeblasen worden, der Dark den Sand um die Stiefel wirbelte.
    Dark sah hinüber in Richtung Cape Wrath und meinte, im Glas des Leuchtfeuers Pews Gestalt zu erkennen. Die Wellen gingen tosend und schnell. Es würde Sturm geben.
    1878. Sein fünfzigster Geburtstag.
    Als Robert Louis Stevenson bat, ihn besuchen zu dürfen, hatte Dark sich gefreut. Erst würden sie zum Leuchtturm gehen und dann würde Dark ihm die berühmte Höhle mit den Fossilien zeigen. Er wusste, dass Stevenson von Darwins Evolutionstheorie fasziniert war. Er hatte keine Ahnung, dass Stevenson mit seinem Besuch eine ganz bestimmte Absicht verfolgte.
    Die Männer saßen Seite an Seite vor dem Kamin und plauderten. Beide hatten reichlich Wein getrunken, Stevensons Gesicht war gerötet, und er sprach mit großer Lebhaftigkeit. Ob Dark nicht auch der Meinung sei, dass alle Menschen über Atavismen verfügten? Teile ihres Ichs, wie unentwickelte Negative? Ein Schatten-Ich, unbebildert, aber dennoch genauso vorhanden?
    Dark spürte, wie er nach Luft rang. Er spürte sein Herz schlagen. Was wollte Stevenson damit sagen?
    »Ein Mann könnte zwei Männer sein«, sagte Stevenson,»ohne es zu wissen, oder er könnte es entdecken oder feststellen, dass er entsprechend handeln muss. Und diese beiden Männer wären von sehr unterschiedlichem Wesen. Der eine aufrecht und treu, der andere vielleicht nicht besser als ein Affe.«
    »Ich akzeptiere nicht, dass die Menschen einmal Affen gewesen sein sollen«, sagte Dark.
    »Aber Sie akzeptieren doch, dass alle Menschen Vorfahren haben. Fließt also nicht irgendwo in Ihrem Blut ein lang vergessener Feind, der lediglich körperlos ist?«
    »In
meinem
Blut?«
    »Oder in meinem. In unser aller Blut. Wenn davon die Rede ist, dass ein Mann etwas tut, das nicht im Einklang ist mit seinem Charakter, was sagen wir damit? Sagen wir damit nicht eigentlich, dass an dem Mann mehr sein muss, als wir wissen wollen, oder sogar mehr, als er von sich selbst wissen will?«
    »Halten Sie uns für derart unfähig zur Selbsterkenntnis?«
    »So würde ich es nicht ausdrücken, Dark; ein Mann mag sich selbst erkennen, aber er rühmt sich seines Charakters, seiner Integrität – das Wort sagt alles –
Integrität
–, wir meinen damit Tugend, aber es bedeutet auch Ganzheit, und wer von uns kann das schon von sich behaupten?«
    »Wir sind alle ganz, hoffe ich.«
    »Ich frage mich, ob Sie mich missverstehen wollen.«
    »Was meinen Sie damit?«, sagte Dark, und sein Mund war trocken, und Stevenson bemerkte, wie er mit seiner Uhrenkette spielte, als wäre sie ein Rosenkranz.
    »Soll ich ehrlich sein?«
    »Bitte.«
    »Ich war in Bristol …«
    »Verstehe.«
    »Und ich machte die Bekanntschaft eines Seemanns namens –«
    »Price«, sagte Dark.
    Er stand auf und sah aus dem Fenster, und als er sich wieder seinem Arbeitszimmer zuwandte, das voll mit abgegriffenen und vertrauten Gegenständen war, kam er sich vor wie ein Fremder im eigenen Leben.
    »Dann werde ich es Ihnen erzählen.«
     
    Er redete, er erzählte die ganze Geschichte von Anfang bis Ende, doch dabei hörte er seine Stimme wie von fern, wie einen Mann im Nebenzimmer. Er belauschte sich dabei selbst. Er war es selbst, mit dem er redete. Er war es, dem er die Geschichte erzählen musste.
     
    Hätte ich sie nicht noch einmal gesehen an jenem Tag in London, wäre mein Leben vielleicht ganz anders verlaufen. Ich ließ einen Monat verstreichen bis zu unserem nächsten Treffen, und in diesem Monat dachte ich an nichts anderes. Sobald wir zusammen waren, drehte sie sich um und bat mich, die Häkchen ihres Kleides zu öffnen. Es waren zwanzig Stück; ich weiß noch, dass ich jedes einzelne gezählt habe.
    Sie trat aus ihrem Kleid und öffnete ihr Haar und küsste mich. Sie ging so frei mit ihrem Körper

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