Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
ordnen.
Mit Magenkrämpfen verließ ich die Bücherei und lief wie von Sinnen durch die Straßen. Dann entdeckte ich das Buch in einem Buchladen, aber nachdem ich nur eine einzige Seite darin weitergelesen hatte, kam die Verkäuferin an und teilte mir mit, dass ich es entweder kaufen oder dalassen müsse.
Ich hatte mir geschworen, nur für das nötige Essen Geld auszugeben, bis ich Pew gefunden hatte. Also sagte ich zu der Verkäuferin: »Ich kann’s mir nicht leisten, und ich kann’s nicht ertragen, es dazulassen. Aber ich liebe es.«
Sie blieb ungerührt. Wir leben in einer Welt, in der es immer nur zwei Möglichkeiten gibt: kaufen oder dalassen. Liebe hat keinerlei Bedeutung.
Zwei Tage später lief ich durch die Stadt und entdeckte imStarbucks die Bibliothekarin. Sie saß am Fenster und las
Der Tod in Venedig
. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Gefühl war … Ich stand vor dem Fenster und beobachtete sie, und sie blickte immer wieder gedankenverloren hinaus, sah nur den Lido und hielt ihre Nase in die schwere verseuchte Luft.
Ein Mann mit Hund musste mich wohl für eine Bettlerin gehalten haben, denn er schenkte mir plötzlich ein Pfund, und ich ging hinein und bestellte mir einen Espresso und setzte mich ganz dicht neben sie, um mitlesen zu können. Sie hielt mich bestimmt für etwas seltsam – das verstehe ich, denn manche Leute sind ja wirklich etwas seltsam, – ich kenne welche aus dem Hotel –, denn auf einmal klappte sie das Buch zu wie ein uneingelöstes Versprechen und ging.
Ich folgte ihr.
Sie ging zum Friseur, zu Woolworths, zum Chiropraktiker, in ein Kleintierfutter-Geschäft, in einen Videoladen und endlich nach Hause. Ich lungerte vor dem Haus herum, bis sie es sich mit einem Teller Mikrowellen-Rigatoni mit Tomatensoße und dem
Tod in Venedig
bequem machte.
Es war die reinste Qual.
Endlich schlief sie ein, und das Buch glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden.
Da lag es, nur wenige Zentimeter vor meiner Nase. Hätte ich doch das Fenster hochziehen und es an mich bringen können! Halb zugeklappt lag das Buch auf dem blauen Teppich. Ich versuchte es mit magischen Kräften in meine Richtung zu bewegen.
»Hierher, zu mir!«, sagte ich.
Das Buch rührte sich nicht. Ich versuchte, das Fenster aufzudrücken, aber es war verschlossen. Ich kam mir vor wie Lancelot vor der Kapelle des Heiligen Grals – aber die Geschichte habe ich auch nie zu Ende gelesen.
Tage vergingen. Ich behielt sie im Auge, bis es ihr besser ging. Ich tat sogar noch mehr; ich schob ihr Aspirin durch den Briefkastenschlitz. Ich hätte sogar Blut gespendet, wenn es der Sache förderlich gewesen wäre, aber ob nun mit oder ohne meine Hilfe, sie wurde wieder gesund, und es kam der Tag, an dem ich ihr zurück in die Bibliothek folgte.
Sie nahm das Buch mit hinein, gab es ab und wandte sich einem Besucher zu. Ich schnappte mir das Buch aus dem weißen Wägelchen, auf dem die Bücher zurück ans Regal gebracht werden. Gerade als ich auf den Lesesaal zusteuerte, riss mir eine Mitarbeiterin mit Schnurrbart – sie war eine Frau, aber sie hatte einen Schnurrbart, was meist ein schlechtes Zeichen ist –, diese Mitarbeiterin jedenfalls riss mir das Buch aus der Hand und sagte, es sei für einen Benutzer reserviert.
»Ich bin ein Benutzer«, sagte ich.
»Name?«, sagte sie, als wäre das ein Verbrechen.
»Ich stehe nicht auf Ihrer Liste.«
»Dann wirst du warten müssen, bis das Buch wieder im Haus ist«, sagte sie mit offensichtlicher Genugtuung, und genau das ist nämlich das Problem mit diesen Bibliothekarinnen – mit der größten Wonne erzählen sie einem, dass ein Buch vergriffen, entliehen, verloren gegangen oder noch nicht geschrieben sei.
Am Empfang habe ich eine Liste mit Titeln hinterlegt, denn bestimmt werden sie eines Tages geschrieben, und dann ist es gut, als Erste in der Schlange zu stehen.
Am Abend folgte ich der Bibliothekarin nach Hause, denn ich hatte mich daran gewöhnt, und alte Gewohnheiten gibt man nur ungern auf. Sie ging wie immer ins Haus, und als sie wieder rauskam, um sich in den Garten zu setzen, hatte sie eine nagelneue eigene Ausgabe vom
Tod in Venedig
dabei. Ich musste also nur warten, bis das Telefon klingelte, was tatsächlichgeschah, dann überquerte ich den Rasen vorm Haus und schnappte mir das Buch.
Auf einmal hörte ich, wie sie ins Telefon schrie: »Da ist ein Einbrecher – ja, ja, genau –, ruf die Polizei!«
Ich lief schnell hin, um ihr zu helfen, aber sie wollte
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