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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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um. Ihr Körper, ihre Freiheit. Ich hatte Angst vor dem Gefühl, das sie in mir weckte. Wir seien nicht eine Person, sagen Sie, sondern in Wirklichkeit zwei verschiedene? Ja, wir waren zwei, und doch waren wir eins. Und was mich betrifft, ich bin von großen Wogen zerschmettert. Ich bin Buntglas aus einem Kirchenfenster, das vor langer Zeit zertrümmert wurde. Überall finde ich Scherben meiner selbst, und ich schneide mich, wenn ich sie aufhebe. Das Rot und Grün ihres Körpers sind die Farben meiner Liebe für sie, die bunten Scherben meiner selbst, nicht das dicke schwere übrige Glas.
    Ich bin der gläserne Mann, aber in mir ist kein Leuchtfeuer,das übers Meer scheinen kann. Ich werde niemanden den Heimweg weisen, werde keine Leben retten, nicht mal mein eigenes.
    Einmal kam sie her. Nicht hier in dieses Haus, aber zum Leuchtturm. Nur deshalb kann ich es ertragen, weiter hier zu leben. Ich gehe täglich den Weg, den wir gegangen sind, und versuche, ihren Fußstapfen nachzuspüren. Sie fuhr mit den Händen an der Kaimauer entlang. Sie setzte sich an einen Felsblock, den Rücken zum Wind. Sie schenkte diesem kargen Ort Reichtum. Ein Teil von ihr ist im Wind, er ist in den Mohnblumen, im Sinkflug der Möwen. Wenn ich sie suche, finde ich sie, auch wenn ich sie niemals wiedersehen werde.
    Ich finde sie im Leuchtturm, in seinen langen Lichtblitzen übers Wasser, ich fand sie in der Höhle – wundersamerweise, unmöglicherweise, aber da war sie, die Kurven ihres Körpers verquickt mit dem lebendigen Stein. Wenn ich meine Hand in die Öffnung stecke, ist sie es, die ich spüre; ihre salzige Glätte, ihre scharfen Kanten, ihre Wendungen und Hohlräume, ihr Gedächtnis.
    Darwin sagte mal etwas zu mir, wofür ich ihm dankbar war. Ich hatte vergessen wollen, hatte meinen Kopf daran hindern wollen, nach einem Ort zu greifen, an dem es kein Zurück gibt. Er erkannte meine Unruhe, auch wenn er deren Ursache nicht kannte, und er nahm mich mit nach Am Parbh – zum Wendepunkt –, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Nichts wird vergessen. Nichts geht verloren. Das Universum selbst ist ein einziges großes Gedächtnissystem. Ein einziger Blick zurück, und wir sind am Anbeginn der Welt.«

1859
    veröffentlichte Charles Darwin
Die Entstehung der Arten
, und Richard Wagner vollendete seine Oper
Tristan und Isolde
. Beide handeln vom Anbeginn der Welt.
    Darwin – objektiv, wissenschaftlich, empirisch, quantifizierbar.
    Wagner – subjektiv, poetisch, intuitiv, rätselhaft.
     
    Im
Tristan
schrumpft die Welt auf die Größe eines Schiffes, eines Bettes, einer Laterne, eines Liebestranks, einer Wunde. Die Welt ist in einem einzigen Wort enthalten – Isolde.
    Der romantische Solipsismus, dass außer uns beiden nichts existiert, könnte der Vielfältigkeit und Mannigfaltigkeit von Darwins Verständnis der natürlichen Welt nicht ferner liegen. Danach bildet die Welt sich und alles in ihr und wird unermüdlich und unablässig neu gebildet. Die Lebenskraft der Natur ist amoralisch und unsentimental; die Schwachen sterben, die Starken überleben.
    Tristan, schwach und verwundet, hätte sterben müssen. Er wurde von der Liebe geheilt. Liebe gehört nicht zur natürlichen Auslese.
    Wo begann die Liebe? Welches menschliche Wesen sah zum ersten Mal ein anderes an und entdeckte in dessen Gesicht die Wälder und das Meer? Gab es einen Tag, an dem du, ausgelaugt und erschöpft vom Jagen und Sammeln, die Arme zerkratztund voller Narben, gelbe Blumen sahst und sie, ohne zu wissen, warum, pflücktest, weil ich dich liebe?
     
    Von Liebe ist in den fossilen Zeugnissen unseres Daseins keine Spur. Sie lagern nicht in der obersten Schicht der Erde und warten darauf, gefunden zu werden. Die langen Gebeine unserer Vorfahren entdecken uns nicht ihr Herz. Ihre letzte Mahlzeit ist manchmal in Torf oder im Eis konserviert, ihre Gedanken und Gefühle aber sind verschwunden.
     
    Darwin stellte ein stabiles System von Schöpfung und Vollendung auf den Kopf. Seine neue Welt war im Fluss, im Wandel, eine Welt des Herumprobierens, der Außenseitersiege, Zufälle, der schicksalhaften Experimente mit Erfolgsaussichten wie beim Lotto. Doch die Erde entpuppte sich als die blaue Kugel mit der Gewinnzahl. Hüpfend im Meer des Weltraums, war die einsame Erde unsere Glückszahl.
    Darwin und seine Anhänger hatten noch immer keine Ahnung, wie alt die Erde mit ihren Lebensformen sein mochte, aber sie wussten, dass sie unvorstellbar älter war als die

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