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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Winterson
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Hände. »Und ich bin Edward Hyde.«
     
    Ein Wind aus Südwest ging über die Landzunge und wehte ihm das Haar aus der Stirn. Er war achtundfünfzig und hatte noch volles Haar, aber so weiß wie die gebleichten Knochen, die er seinem Hund anstatt eines Stocks zuwarf.
    Die nahe liegende Gleichung war Dark = Jekyll. Lux = Hyde.
    Die unmögliche Wahrheit war, dass es in seinem Leben genau umgekehrt war.
    Er lief weiter – drehte die Sache immer wieder in Händen, wie er es inzwischen seit so vielen Jahren tat. Er nahm das Seepferdchen aus der Tasche – sein Sinnbild der verlorenen Zeit.
     
    Stevenson hatte ihm nicht glauben wollen, als Dark ihm erzählte, alles Gute in seinem Leben habe nur mit Molly in Bristol gelebt. Dark sei ein Heuchler, Ehebrecher und Lügner.
    »Aber ich bin er«, sagte Dark, »und ich muss mit ihm leben, obwohl ich ihn verabscheue.«
    Konnte er nicht jetzt noch, einfach jetzt, sein Wesen in Einklang bringen? Warum war es zu spät?
    Er begriff, dass er damals, als Molly nach Salts gekommen war, seine letzte Chance bekommen hatte. Die Chance auf Freiheit. Sie war gekommen, um ihm zu vergeben und ihn zu erlösen. Sie hatte ihn mitnehmen wollen. Sie hatte mit ihm zusammen in jener Nacht auf einem Postschiff nach Frankreich verschwinden wollen.
    Warum war er nicht mitgegangen?
    Er verabscheute sein Leben hier. Die zwei Monate im Jahr mit ihr hatten es erträglich gemacht. Sie war die Luftblase in seinem gekenterten Boot.
    Nun war er ertrunken.
     
    Er nahm sein abgewetztes, eingekerbtes Notizbuch und las den Eintrag.
    Molly ist nach Bristol zurückgefahren. Ihren Plan, in Frankreich ein neues Leben zu beginnen, konnte ich nicht akzeptieren. Ich bin standhaft geblieben. Ich bin standhaft geblieben. Ich bin standhaft geblieben.
    Er klappte das Büchlein zu, steckte es in die Tasche und ging weiter, wobei ihm auffiel, wie stark der Stein am Fuß der Klippen abgetragen war.

Erzähl mir eine Geschichte, Silver.
    Welche Geschichte?
    Erzähl mir, wie wir uns kennen gelernt haben.

Die Liebe ist ein unbewaffneter Eindringling.
     
    Das Schiff lief in den Hafen bei Athen ein.
    Es war das letzte Schiff, und es brannten schon alle Lichter. Ich hatte gut eine Stunde gewartet, zwischen Rucksäcken und Eiswaffeln und den endlosen Zigaretten der anderen, die wie ich noch vor Einbruch der Dunkelheit eine Insel erreichen mussten.
     
    Das Schiff war gesteckt voll mit Albanern, vier Generationen pro Familie; die Urgroßmutter, luftgetrocknet wie eine Chilischote, tiefrote Haut und heißblütig; die Großmutter wie eine sonnengetrocknete Tomate, ledern, zäh, die Haut rissig von der Hitze, ließ sie sich von den Kindern die Arme mit Olivenöl einschmieren; die Mutter, feucht wie eine lila Feige, überall offen – Bluse, Rock, Mund, Augen, eine weit offene Frau, die sich die salzige, an Deck sprühende Gischt von den Lippen leckte. Dann waren da noch die Kinder im Alter von vier bis sechs, reizend und spritzig wie Zitronen.
    Ich saß auf meinem Gepäck, weil ich Angst hatte, es könnte zwischen den Lagerhallenladungen aus Kisten und verschnürten Säcken abhanden kommen. Als wir die Insel erreichten, warteten die Männer schon mit ihren Maultieren, und die ganze Familie sprang auf die hölzernen Sättel und ritt barfuß die leitersteilen Gässchen hinauf zu den stufenförmig angelegten weißen Gebäuden, die immer dunkler wurden, je mehr wiruns vom hell erleuchteten Feriengefühl des Hafens mit seinem Ring aus bunten Lichterketten entfernten.
    Hydra: eine Insel auf dem Rücken der Maultiere, eine vierbeinige Insel, deren einzige Räder dem örtlichen Müllwagen gehören.
     
    Ich lief an der Hafenmauer entlang und machte dabei einen Bogen um leicht erregbare Restaurantbesitzer, die mit Hummern winkten, und beflissene Barkeeper, die Piña Coladas in Krügen wie Fußballtrophäen servierten.
    Ich musste eine Adresse finden.
    Ein Wachmann stand forsch vor einer geankerten Jacht, deren Besitzer sich fürs Abendessen zurechtgemacht hatten und es aßen. Zumindest fast – die Frauen führten leere Gabeln an glanzlackierte verhungerte Lippen, und die rinderfiletfarbenen Männer tranken Krug aus Kelchen. Ich weiß, dass es Krug war; das sah ich an der Form der Flasche, als der Kellner einschenkte.
    Er schüttelte den Kopf, als ich ihm meine Adresse zeigte – er sei nur für eine Nacht in der Stadt. »Kannst ruhig bei mir bleiben«, sagte er augenzwinkernd. »Hab ’ne nette kleine Koje, und gegen fünf komm ich dazu, wenn

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