Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
definieren?«, fragte ich.
Mit seinem Bleistift schrieb er auf einen Zettel:
Psychose: den Sinn für die Realität verlieren.
Seitdem versuche ich herauszufinden, was Realität ist, um dafür einen Sinn zu bekommen.
Schläfrig von der Reise, der Nacht und dem Wein, ging ich ins Haus und legte mich auf die unbezogene rosa Matratze. Ich hätte eigentlich nach Bettzeug suchen müssen, aber ich schlief ein und dachte an Babel Dark, und wie es war, vor hundertfünfzig Jahren vom Weg abgekommen und allein zu sein.
Am Morgen weckten mich die chromatischen Glocken der orthodoxen Kirche.
Ich öffnete die Blendläden. Das Licht war leidenschaftlich wie eine Romanze. Ich war geblendet, entzückt, nicht nur, weil es warm und angenehm war, sondern weil die Natur niemals Maß nimmt. So viel Sonne braucht kein Mensch. Genauso wenig braucht man Dürre, Vulkane, Monsune und Tornados, aber wir haben sie, weil unsere Welt so extravagent ist, wie eine Welt nur sein kann. Wir sind diejenigen, die von Vermessungen besessen sind. Die Welt gießt das alles einfach nur aus.
Ich ging nach draußen, stolperte dabei über die Sonnenstreifen, groß wie Städte. Die Sonne war wie eine Menschenmenge, sie war ein Fest, sie war Musik. Die Sonne trompetete durch die Häuserwände und sprang im Takt die Stufen hinunter. Die Sonne schlug die Zeit in den Stein. Die Sonne rhythmisierte den Tag.
»Warum hast du Angst?«, fragte ich mich, denn Angst liegt allem zugrunde, sogar die Liebe beruht meistens auf Angst. »Warum hast du Angst? Egal, was du tust, du wirst ohnehin sterben.«
Ich beschloss, das Kloster auf der anderen Inselseite zu besuchen.
Man nimmt einen steilen schlangenförmigen Pfad aus Gestrüpp und Vipern, ungeschützt vor der Sonne.
Niemand kommt hier hoch, und wenn doch, dann auf Maultieren, im Damensitz, die Männer mit Luxusschnäuzern, die Frauen mit Kopfbedeckung und nackten Armen.
Hier lädt der einzige Müllwagen mit Dieselmotor seine stinkende Fracht ab. Hier liegt ein danteskes Inferno schwelenden Abfalls, mit einem Gestank, wie ihn nur Menschen produzieren können. Ich zog mein T-Shirt aus, wickelte es mir um den Kopf und rannte mir fast die Lunge aus dem Hals, aber das Schlimmste hatte ich hinter mich gebracht.
Befreit kletterte ich höher und höher, und die Insel lag unter mir wie eine Geliebte.
Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Straße war menschenleer. Meine Füße waren dreckig, die Fesseln mit Schmutz gerändert. Ein Raubvogel umkreiste die Wolken – aber nichts Tierisches oder Menschliches war zu sehen.
Dann entdeckte ich es – es hatte den Umfang eines mittelgroßen Hundes und sah aus wie eine Katze, aber mit größeren Ohren und furchterregendem Blick. Es hockte auf einem Steinvor den Ruinen eines Klosters wie ein untröstlicher Johannes der Täufer.
Es war eine Zibetkatze.
Ich näherte mich ihr, so weit ich es wagte, doch anstatt das Weite zu suchen, setzte sie zum Sprung an.
Wir starrten einander in die Augen – bis sie sich leise in eine Höhle hinter dem Felsen zurückzog.
Ich bin halb Zibetkatze, halb Mäusefänger.
Was soll ich machen mit dem Wilden und dem Zahmen? Das wilde Herz, das frei sein, und das zahme Herz, das nach Hause will. Ich will in den Arm genommen werden.
Komm mir nicht zu nah.
Ich will, dass du mich hochhebst und nachts ins Haus trägst.
Ich will dir nicht sagen, wo ich bin.
Ich will einen Platz zwischen den Felsblöcken haben, wo mich niemand finden kann.
Ich will bei dir sein.
Früher war ich hoffnungslos romantisch. Ich bin noch immer hoffnungslos romantisch. Früher glaubte ich, die Liebe sei das Wertvollste überhaupt. Ich glaube noch immer, die Liebe sei das Wertvollste überhaupt. Ich erwarte nicht, glücklich zu sein. Ich glaube nicht, dass ich die Liebe finden werde, was auch immer das heißt, und wenn doch, glaube ich nicht, dass sie mich glücklich machen wird. Ich halte die Liebe nicht für die Antwort oder die Lösung. Ich halte die Liebe für eine Naturgewalt – stark wie die Sonne, genauso notwendig, unpersönlich, gigantisch, unmöglich, sengend wie wärmend, Dürre bringend wie Leben spendend. Und wenn er ausgebrannt ist, stirbt der Planet.
Meine kleine Umlaufbahn umringt die Liebe. Ich wage mich nicht näher heran. Ich bin keine Mystikerin, die die letzte Kommunion sucht. Ohne LSF 15 gehe ich nicht vor die Tür. Ich schütze mich.
Aber heute, wo die Sonne überall und alles Feste nichts als sein eigener Schatten ist, weiß
Weitere Kostenlose Bücher