Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
wenn wir sie verpassen würden.«
Genau, wie er es sich gedacht hatte. Jedes Wort, das im Garten von Nr. 14 gesprochen wurde, konnte man in diesem Garten hier hören. Mrs. Foster hatte ihn nicht gesehen. Er wartete, bis sie wieder in ihrer Küche verschwunden war, bevor er weiterging.
Dann sah er es: ein hauchdünner Lichtstreifen, feiner als der Strahl einer Bleistifttaschenlampe, der von einer Terrassentür aus quer übers Gras verlief. Auf Zehenspitzen ging er auf die Lichtquelle zu, einen winzigen Spalt zwischen vorgezogenen Vorhängen.
Es war schwierig, überhaupt etwas zu sehen. Dann merkte er, daß der Rand des Vorhangs direkt in der Mitte der Tür an einem Riegel hängengeblieben war. Er ging in die Hocke, aber noch immer konnte er nichts sehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich flach hinzulegen. Glücklicherweise war kein Beobachter in der Nähe, der mit ansah, wie schwer es ihm fiel, etwas zu tun, das eigentlich zu den natürlichsten Bewegungen eines Menschen gehören sollte.
Platt auf dem Bauch liegend, linste er mit einem Auge durch das vorhanglose Dreieck. Der Raum tat sich vor ihm auf. Er war klein, ordentlich und von einer putzwütigen Hausfrau konventionell möbliert, rote Couchgarnitur, dreiteilig, Beistelltische, Wachsgladiolen und Nelken, deren Blütenblätter täglich mit einem feuchten Tuch abgewischt wurden.
Der Mann, der schreibend an einem Sekretär saß, war jetzt ganz entspannt und voll auf seine Aufgabe konzentriert. Der unerwünschte Besucher war endlich weggegangen und hatte ihn dem ganz besonderen Frieden und der Intimität überlassen, die er brauchte. In seinem Gesicht war es wahrscheinlich zu sehen, dachte Wexford bei sich, dieser schreckliche, einsame Egoismus, diese Selbstvergessenheit, aber das Gesicht konnte er nicht sehen, nur die nackten Beine und Füße, und er ahnte die entrückte Versunkenheit des Mannes. Unter seinem Pelzmantel war er Wexfords Vermutung nach ganz nackt.
Wexford beobachtete ihn einige Minuten, sah zu, wie er gelegentlich innehielt und mit dem dicken, flauschigen Ärmel über Nase und Mund fuhr. Es ließ ihn erschauern, denn er wußte, daß er etwas Intimeres belauschte als ein heimliches Gespräch oder einen Liebesakt oder eine Beichte. Dieser Mann da war nicht allein mit sich, sondern mit seinem zweiten Ich, einer gesonderten Persönlichkeit, die womöglich bis jetzt noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte.
Zeuge dieses Phänomens zu sein, dieses intensiven, intimen Phantasierens in einem Raum, der so ausgesprochen die Normalität verkörperte, erschien Wexford eine ungeheuerliche Einmischung. Doch dann fielen ihm die ergebnislosen Verabredungen im Wald wieder ein und Gemma Lawrences Hoffnung und Verzweiflung. Ärger verdrängte die Scham. Er rappelte sich hoch und klopfte hart gegen die Glasscheibe.
19
In seiner Hast, zum Fahrstuhl zu gelangen, drängte Burden Harry Wild aus dem Weg.
»Manieren«, ereiferte sich der Reporter. »Man muß einen ja nicht gleich wegstoßen. Ich habe ein Recht, herzukommen und Fragen zu stellen, wenn ich...«
Die zugleitende Tür schnitt den Rest seiner Bemerkungen ab, die womöglich darauf hinausgelaufen wären, daß er, wäre er nicht so ein bescheidener Mensch und hätte er nicht diese Vorliebe fürs ruhige Leben, in ehrwürdigeren Hallen von seinen Rechten Gebrauch machen würde als denen des Polizeireviers von Kingsmarkham. Burden wollte davon nichts hören. Er wollte nur Bestätigung oder Verneinung von Harrys Aussage, daß man den Jungen gefunden habe.
»Es gibt eine Sondersitzung des Gerichts?« fragte er, als er in Wexfords Büro stürmte.
Der Chief Inspector sah müde aus heute morgen. Wenn er müde war, nahm seine Haut einen stumpfen Grauton an, und seine Augen waren kleiner denn je, aber immer noch stahlgrau unter den geschwollenen Lidern.
»Gestern abend«, sagte er, »habe ich unsern Briefschreiber gefunden, einen gewissen Arnold Charles Bishop.«
»Aber den Jungen nicht?« fragte Burden atemlos.
»Nein, natürlich nicht den Jungen.« Burden konnte es nicht leiden, wenn Wexford so feixte wie jetzt. Sein Blick schien zwei saubere Löcher in Burdens sowieso schon schmerzenden Kopf zu bohren. »Er kennt den Jungen nicht mal. Ich fand ihn in seinem Haus in Sparta Grove, wo er damit beschäftigt war, mir einen weiteren Brief zu schreiben. Seine Frau war zu einem Volkshochschulkurs, die Kinder im Bett. O ja, er hat Kinder, zwei Jungen. Einem von ihnen hat er die Haarlocke abgeschnitten,
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