Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
schweifen. Die Aussicht bereitete ihm stets aufs neue Vergnügen. Fast kein anderes Haus war zu sehen, nur grüne Wiesen, durchsetzt mit dem Goldgelb der frischgemähten; durch das Tal schlängelte sich der Bach, zu beiden Seiten von Weiden gesäumt; Baumgruppen krönten die Kuppen der niedrigen runden Hügel, und dort, zu Quentins Linken auf der anderen Straßenseite, stand der große Tannenwald. Er erstreckte sich über eine ganze Hügelkette, im morgendlichen Nebel sah er wie ein dunkles Samttuch aus, das man achtlos über die Landschaft geworfen hatte. Quentin dachte sich immer Metaphern für den Wald aus, verglich ihn mit anderen Dingen und sah ihn in romantischem Licht. Manchmal stellte er ihn sich nicht als Wald oder Samttuch vor, sondern als ruhendes Tier, das im Schlaf die Felder bewachte, und jene sich speichenförmig ausbreitenden Pflanzungen als ausgestreckte, mächtige und schutzgewährende Tatzen.
Nun wandte er den Blick dem eigenen Anwesen zu, richtete ihn auf die näher gelegenen Gartenanlagen, den gepflegten nebelverhüllten Rasen und die Rosenbeete, die im Morgendunst ganz fahl aussahen, und gerade überlegte er, ob er eine Rose abschneiden sollte, eine Iceberg oder vielleicht eine Superstar, als ihn ein Finger an der Schulter stupste und eine ruhige Stimme sagte:
»Der Schönheit nahe hat gebracht
Natur den Geist, der mich beseelt;
Was Mensch aus Menschen hat gemacht,
Das sann ich tief gequält.«
»Guten Morgen, Denys«, begrüßte ihn Quentin herzlich. »Kein sonderlich fröhliches Zitat für einen heiteren Morgen wie heute. Wordsworth, oder?«
Denys Villiers nickte. »Falls ich nicht fröhlich bin, muß das daran liegen, daß in zwei Tagen die Schule beginnt, dann werde ich bis Weihnachten nicht mehr zum Arbeiten kommen. Ich habe übrigens etwas für dich.« Er klappte seinen Aktenkoffer auf und zog ein Buch hervor, neu und druckfrisch, offenbar direkt aus der Binderei. »Ein Vorausexemplar«, sagte er. “Ich dachte, du hättest es vielleicht gerne.«
Quentins Gesicht strahlte vor Freude. Er las den Titel: Der verliebte Wordsworth, von Denys Villiers, dann schlug er mit kaum verhohlener Erregung die Widmung auf, die er laut vorlas. »>Für meinen Schwager Quentin Nightingale, ein wahrer Freund und Gönner.< Also Denys, das ist wunderbar! Ich komme mir vor wie Southampton.«
Auf Villiers Miene tauchte eines seiner seltenen Lächeln auf. »Dem einzigen Erzeuger dieser nachfolgenden Essays, Mr. Q. N....« Er runzelte die Stirn, wie über die eigene Schwäche. »Hauptsache, es gefällt dir. Aber auf mich wartet Arbeit, und du hast sicherlich auch zu tun...«
»Ja, ich muß los. Paß auf dich auf, Denys. Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und damit anzufangen.« Er tippte auf das Buch, klopfte Villiers auf die Schulter und ging. Villiers drückte die Tür in der Mauer des Stammhauses auf und trat in den dämmrigen Innenhof, der nie Sonne hatte und in dem Linden und Zypressen wuchsen. Immer noch lächelnd, das Geschenk neben sich auf dem Beifahrersitz, fuhr Quentin nach London.
Elizabeth Nightingale verbrachte eine Stunde damit, sich für die Blicke der Welt zurechtzumachen. Der angestrebte Eindruck sollte ein Bild schlichter Jugend vermitteln, rein und frisch, leicht geschminkt, Kleidung von lässiger Korrektheit oder korrekter Lässigkeit. Die Leute meinten, sie sähe nicht älter aus als fünfundzwanzig. Ach, sagte Elizabeth zu ihrem Spiegelbild, mit fünfundzwanzig kannten die mich eben nicht! Manchmal sagte sie auch, heutzutage brauche sie doppelt so lange, um halb so gut auszusehen.
Umgänglich wie immer nahm sie den morgendlichen Kaffee mit dem Personal in der Küche. Am oberen und unteren Ende des Tisches saßen die beiden Gärtner, Elizabeth hatte den Platz gegenüber Nelleke Doorn. Mrs. Cantrip trank ihren Kaffee im Stehen und erteilte dabei Anweisungen.
»Falls dir Alf Tawney über den Weg läuft, Will, dann denk daran, ihm zu sagen, daß ich für heute abend ein Hähnchen bestellt habe, und das will ich vormittags haben, nicht fünf Minuten vor Essenszeit der gnädigen Frau. Und du, Sean, nimm gefälligst die Ellbogen vom Tisch. Das sage ich dir jetzt schon mindestens zum fünfzigstenmal. Sobald du ausgetrunken hast, Nelke, kannst du Mr. Villiers seinen Kaffee bringen. Der glaubt bestimmt schon, uns hätte alle der Schlag getroffen. Und mach um Himmels willen das Radio aus. Die gnädige Frau will dieses Gedudel bestimmt nicht hören.«
»Oh, Popmusik gefällt
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