Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
kläglicher Verlegenheit. Als Burden sich wieder gefaßt hatte, war er in der Tat sehr verlegen, doch Wexford verfiel weder in munteres Herumgetöne, noch machte er einen jener ungeschickten Versuche, das Thema zu wechseln.
»Sie hätten eigentlich dies Wochenende frei, oder, Mike?«
»Wie kann ich denn jetzt auch noch freinehmen?«
»Seien Sie nicht albern. In diesem Zustand sind Sie sowieso mehr als nutzlos. Machen Sie ein langes Wochenende draus, beginnend mit Donnerstag.«
»Grace will mit den Kindern nach Eastbourne fahren...«
»Fahren Sie mit. Sehen Sie zu, ob sie nicht ihre Meinung ändert und vielleicht doch noch bleibt. Es gibt immer zwei Möglichkeiten, Mike, oder? Und jetzt - meine Güte, wie spät ist es? -, wenn ich nicht augenblicklich losgehe, komme ich noch zu spät zum Gericht.«
Burden öffnete das Fenster, stellte sich davor und ließ den feinen Morgendunst über sein Gesicht streichen. Ihm kam es vor, als sei mit der Festnahme Bishops ihre letzte Hoffnung - oder seine letzte Sorge -, John Lawrence zu finden, dahin. Er würde Gemma nicht damit verstören, und Lokalzeitungen las sie nie. Der weiße, durchsichtige Dunst trieb vorbei, wusch sanft über ihn und machte ihn ruhiger. Dunst an der See und lange, leere Strände, verlassen im November, kamen ihm in den Sinn. Wenn sie dort waren, dann wollte er den Kindern und Grace und seiner Schwiegermutter von Gemma erzählen und davon, daß er wieder heiraten würde.
Er wunderte sich, warum der Gedanke daran ihn frostiger berührte als die kühle Herbstluft. Weil sie die fremdartigste Nachfolgerin für Jean war, die er aus seiner Welt hätte herauspicken können? Früher hatte er manchmal über Männer gestaunt, die aus Selbstlosigkeit oder aus einer vorübergehenden Verliebtheit heraus eine verkrüppelte oder blinde Frau heirateten. War er nicht im Begriff, genau das zu tun, eine Frau zu heiraten, die in ihrem Herzen und ihrer Persönlichkeit verkrüppelt war? Und er kannte sie nur so. Wie würde sie sein, wenn ihre Deformationen abgeheilt waren?
Absurd, monströs, Gemma als deformiert zu bezeichnen. Voller Zärtlichkeit und mit sehnsüchtigem, schmerzhaftem Herzzucken rief er sich ihre Schönheit und die Liebesnächte mit ihr ins Gedächtnis. Dann schloß er abrupt das Fenster; er wußte, er würde nicht mit Grace nach Eastbourne fahren.
Bishop wurde einem Arzt überstellt. Die Seelenknacker würden ihn sich schon vornehmen, dachte Wexford. Vielleicht würde es etwas bewirken, doch eher nicht. Wenn er nur das geringste Vertrauen zu Psychologen gehabt hätte, dann hätte er Burden empfohlen, zu einem zu gehen. Immerhin, ihre Aussprache vorhin hatte zur Reinigung der Luft beigetragen. Wexford fühlte sich besser danach, und er hoffte, Burden ging es ebenso. Jedenfalls war er jetzt auf sich allein gestellt. Ohne Hilfe mußte er den Mörder der Kinder finden - oder sich an den Yard wenden.
Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn von Mr. und Mrs. Rushworth abgelenkt. Jetzt dachte er erneut über sie nach. Rushworth trug einen Dufflecoat, Rushworth stand im Verdacht, ein Kind belästigt zu haben, aber wenn er der Mann auf dem Spielplatz gewesen wäre, hätte Mrs. Mitchell ihn dann nicht als einen ihrer Nachbarn erkannt? Überdies war jeder Mann im Umkreis von Fontaine Road nach John Lawrences Verschwinden genauestens überprüft worden, auch Rushworth.
Wexford ging noch einmal sämtliche Berichte durch. Am Nachmittag des 16. Oktober hatte Rushworth angegeben, in Sewingbury gewesen zu sein, wo er einem Klienten ein Haus zeigen sollte. Der Klient war nicht aufgekreuzt, wie Wexford sah. Damals im Februar hatte man Rushworth gar nicht erst befragt. Warum auch? Nichts deutete auf eine Verbindung zwischen ihm und Stella Rivers, und niemand hatte gewußt, daß er der Besitzer des vermieteten Häuschens in Mill Lane war. Zu dem Zeitpunkt schien es unerheblich, wem das Cottage gehörte.
Er würde Rushworth noch nicht aufsuchen. Erst mußte er sich über den Charakter und die Glaubwürdigkeit des Mannes informieren.
»Bloß hier wegkommen!« sagte Gemma. »Nur einfach für ein Weilchen aus diesem Haus weg.« Sie legte die Arme um Burdens Hals und hing an ihm. »Wohin wollen wir?«
»Entscheide du.«
»Ich würde gern nach London gehen. Da kann man sich so richtig verlieren, einfach in einer wunderbaren, riesigen Menschenmenge verlieren. Und die ganze Nacht über sind Lichter an, und es ist etwas los und...« Sie hielt inne
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