Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
Stränden sind immer Kinder. Während Gemma auspackte, sah Burden ihnen zu, fünf waren es, die von den Eltern zum Spielen an den Strand gebracht worden waren. Es herrschte Ebbe, und der Strand leuchtete in einem silbrigen Ockerton, der Sand war zu fest, zu sehr zusammengepreßt, als daß man aus dieser Entfernung Fußspuren hätte erkennen können. Der Mann und die Frau gingen weit entfernt voneinander, sie schienen völlig getrennt. Schon viele Jahre verheiratet, nahm Burden an - das älteste Mädchen sah aus wie mindestens zwölf -, sie hatten Kontakt oder Rückversicherung nicht nötig. Die Kinder, wie sie dort von einem zum anderen rannten und dann wieder zum Wasser hinuntersausten, waren Beweis genug für ihre Liebe. Er sah die Eltern, inzwischen getrennt durch eine weite Drift aus Muscheln und Kies, gelegentlich zueinander hinsehen, und in diesen Blikken meinte er eine geheime Sprache aus gegenseitigem Vertrauen und Hoffnung und tiefem Verstehen zu erkennen.
Eines Tages würde es für Gemma und ihn ebenso sein. Sie würden ihre Kinder, seine und ihre gemeinsamen, zu solch einem Strand mitnehmen und mit ihnen zwischen Wasser und Himmel laufen und an ihre Tage und Nächte denken und sich auf die bevorstehende Nacht freuen. Er wandte sich eilig zu ihr um, um ihr zu erzählen, was ihm eben durch den Kopf gegangen war, doch plötzlich wurde ihm klar, daß er es ihr nicht erzählen durfte, er konnte es nicht, denn damit würde er ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder lenken.
»Was ist, Mike?«
»Nichts. Ich wollte dir nur sagen, daß ich dich liebe.«
Er schloß das Fenster und zog die Vorhänge vor, aber im Halbdunkel sah er immer noch die Kinder. Er nahm sie in die Arme und schloß die Augen und sah sie immer noch. Dann liebte er sie wild und leidenschaftlich, um die Kinder auszutreiben, besonders den kleinen hellblonden Jungen, den er nie gesehen hatte, der aber für ihn realer war als die Kinder, die er am Strand beobachtet hatte.
Das Häuschen war sehr alt, vor dem Bürgerkrieg gebaut, vor dem Ablegen der Mayflower, vielleicht sogar vor den letzten Tudors. Rushworths Cottage war neueren Datums, obgleich immer noch alt, es stammte aus der gleichen Zeit wie Saltram House und sein Anhängsel, schätzte Wexford es so um 1750. Er verbrachte in Burdens Abwesenheit viel Zeit in Mill Lane, sah sich die drei kleinen Häuschen an, ging manchmal in die Gärten und wanderte gedankenvoll darin herum.
Einmal ging er zwischen Rushworths Cottage und den Brunnen im Park von Saltram House hin und her und stoppte dabei die Zeit. Er brauchte eine halbe Stunde dazu. Dann noch einmal, diesmal pausierend, um das Aufheben der Steinplatte über der Zisterne und das Deponieren der Leiche zu simulieren. Vierzig Minuten.
Danach fuhr er nach Sewingbury und suchte die Frau auf, die an jenem Oktobernachmittag mit Rushworth verabredet gewesen war. Von ihr erfuhr er, daß sie den Termin nicht habe einhalten können. Und was war mit dem anderen Nachmittag im Februar?
Eines Abends wollte er zu den Crantocks in der Fontaine Road und klopfte, einem Impuls folgend, erst an die Tür von Nummer 61. Er hatte Mrs. Lawrence nichts zu berichten, keine guten Nachrichten, aber er war neugierig, diese verlorene Frau kennenzulernen, von der die Leute sagten, sie sei schön; zudem wußte er aus Erfahrung, daß schon seine Anwesenheit, unerschütterlich und väterlich, manchmal tröstlich sein konnte. Auf sein Klopfen kam keine Antwort, und diesmal spürte er eine andere Atmosphäre als vor Bishops Haus. Es machte keiner auf, weil niemand da war, der ihn hörte.
Einen Augenblick stand er gedankenverloren in der stillen Straße, dann stapfte er, aus ganz persönlichen Gründen ziemlich fassungslos, ein Haus weiter zu den Crantocks.
»Wenn Sie zu Gemma wollten«, sagte Mrs. Crantock, »die ist übers Wochenende verreist, an die Südküste gefahren.«
»Eigentlich wollte ich mit Ihnen und Ihrem Mann reden. Über einen Mann namens Rushworth und Ihre Tochter.«
»Ach das? Ihr Inspektor hat sie ja netterweise nach Hause begleitet. Wir waren sehr dankbar. Obwohl, es war wirklich nichts weiter. Ich weiß zwar, daß die Leute behaupten, Rushworth sei ein Schürzenjäger, aber ich nehme an, das ist schlicht Klatsch, und es sind auch nicht kleine Mädchen gemeint. Meine Tochter ist erst vierzehn.«
Crantock kam in die Diele, um zu sehen, wer da war. Er erkannte Wexford sofort und schüttelte ihm die Hand. »Rushworth ist sogar am nächsten Tag
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