Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
getrieben hatten, waren immer noch da; das Kind, das am Wasser auf und ab rannte, und die Frau bei ihm, die in der einen Hand ein langes Stück Seetang hinter sich herzog. Wäre nicht das leichte Hinken gewesen, Burden hätte sie in ihrer Hose und dem Kapuzenmantel nicht als die Frau wiedererkannt, die er zuvor gesehen hatte - oder überhaupt als Frau. Vergebens versuchte er, Gemmas Aufmerksamkeit landeinwärts auf ein Cottage zu lenken, das sie schon häufig bewundert hatten.
Sie gehorchte - stets fügsam, immer willens, ihn zufriedenzustellen -, doch kaum hatte sie hingeschaut, wandte sie den Blick wieder dem Strand zu. Ihr Arm berührte den seinen, und er merkte, daß sie zitterte.
»Halt an«, sagte sie.
»Aber es gibt nichts zu sehen...«
»Hak an!«
Sie kommandierte niemals. Er hatte sie noch nie so reden hören. »Was, hier?« entgegnete er. “Laß uns zurückfahren. Dir wird nur kalt werden.«
»Bitte halt an, Mike.«
Er konnte sie nicht blind machen, sie nicht ewig abschirmen. Er parkte den Wagen hinter einem roten Jaguar, dem einzigen anderen Auto an der Promenade. Bevor er noch die Zündung abgestellt hatte, öffnete sie die Tür, warf sie hinter sich zu und war auf und davon, die Treppen hinunter.
Absurd, daran zu denken, was sie über das Meer und über einen raschen Tod gesagt hatte, doch er erinnerte sich. Er sprang aus dem Wagen und folgte ihr, mit langen Schritten zuerst, dann rennend. Ihr leuchtendes Haar, sonnenuntergangsrot, wehte hinter ihr. Ihre Schritte machten harte, schmatzende Geräusche auf dem nassen Sand, und die Frau drehte sich um, stand stocksteif, die Seetangliane in ihrer Hand wirbelte plötzlich im Wind wie das Tuch einer Tänzerin.
»Gemma! Gemma!« rief Burden, doch der Wind verwehte seine Worte, oder sie wollte sie nicht hören. Sie schien nur darauf aus zu sein, das Wasser zu erreichen, das zu Füßen des Kindes kräuselte und schäumte. Und nun drehte sich das Kind, das bis zum Rand seiner Gummistiefel in dem flachen Schaum herumgeplatscht hatte, ebenfalls um und starrte sie an, wie Kinder es tun, wenn Erwachsene sich beunruhigend benehmen.
Sie würde sich ins Meer stürzen. Ohne die Frau weiter zu beachten, raste Burden hinter ihr her und hielt plötzlich inne, als sei er blindlings gegen eine Mauer geprallt. Er war nicht mehr als höchstens zehn Meter von ihr entfernt. Mit weit aufgerissenen Augen kam das Kind auf sie zu. Ohne nur eine Sekunde innezuhalten, ohne Zögern, rannte sie ins Wasser und fiel auf die Knie.
Die kleinen Wellen schäumten über ihre Füße, ihre Beine, ihr Kleid. Er sah, wie es sich vollsog, sie bis zur Taille durchnäßte. Er hörte sie schreien - meilenweit konnte man diesen Aufschrei hören, dachte er -, und er wußte nicht, ob er ihm Glück oder Schmerz bedeutete.
»John, John, mein John!«
Sie breitete die Arme aus, und das Kind lief hinein. Immer noch im Wasser kniend, hielt sie ihn eng an sich gedrückt, den Mund fest auf seinen Goldschopf gepreßt.
Burden und die Frau sahen sich wortlos an. Er wußte sofort, wer sie war. Das Gesicht hatte ihm aus dem Album seiner Tochter entgegengeblickt. Aber es war inzwischen sehr mitgenommen, verwüstet und gealtert, das schwarze Haar unter der Kapuze war grob abgeschnitten, als habe sie mit der Zerstörung ihrer Karriere auch die Zerstörung ihrer äußeren Erscheinung annehmen und beschleunigen wollen.
Ihre Hände waren winzig. Sie schien Pflanzen aller Art zu sammeln, doch jetzt ließ sie das Stück Seetang fallen. Aus der Nähe konnte man sie nicht mit einem Mann verwechseln, fand Burden, doch aus der Entfernung? Aus der Entfernung konnte selbst eine Frau mittleren Alters wie ein Jugendlicher aussehen, wenn sie schlank war und die Geschmeidigkeit einer Tänzerin besaß.
Was war natürlicher, als daß sie John haben wollte, den Sohn ihres früheren Geliebten, mit dem sie selbst nie hatte ein Kind haben können? Und sie war krank gewesen, seelisch krank, erinnerte er sich. John war sicher ganz willig mit ihr gegangen, zweifellos hatte er sie als eine Freundin seines Vaters wiedererkannt, vielleicht hatte sie ihn mit der beruhigenden Erklärung überredet, seine Mutter habe ihn vorübergehend ihrer Pflege überantwortet. Und die Küste? Welches Kind will nicht gern ans Meer?
Doch jetzt würde etwas passieren. Sobald ihre erste Freude abgeklungen war, würde Gemma diese Frau in Stücke reißen. Es war schließlich nicht die erste Ungeheuerlichkeit, die ihr Leonie West antat. Hatte sie
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